Der letzte Sänftenträger

Das Leben von Monsieur Séry erzählt die Geschichte der Insel La Réunion im Indischen Ozean. Er trug Zuckerbarone, französische Verwaltungsbeamte und seine Frau durch die dichte Vegetation. Heute ist die Insel Wanderparadies

VON MIRIAM FREUDIG

Monsieur Séry umfasst mit der rechten Hand den Knauf seines Spazierstocks, der linke Arm ist leicht angewinkelt, die Beine stehen ganz gerade nebeneinander, als könnte ihn die kleinste Bewegung aus dem Gleichgewicht bringen. So unbeweglich, wie er dasteht, wirkt der alte Mann wie Teil eines Gemäldes. Im Hintergrund verschwinden die Kuppen des gewaltigen Bergkessels in grauen Wolken.

Es gibt Meer, Strand, Sonne, hohe Berge, grandiose Natur, dichte Vegetation, unzählige Wasserfälle, über 1.000 Kilometer beschilderte und attraktive Wanderwege, einen aktiven, aber ungefährlichen Vulkan, einen kristallklaren südlichen Sternenhimmel, kreolisches Essen, Nebelwälder.

Unzählige Male ist François-Joseph Séry die Berge rauf- und runtergelaufen, hat reiche Plantagenbesitzer und französische Verwaltungsbeamte, Ärzte und Dienstboten hoch in den Thermalkurort getragen. Das war vor mehr als siebzig Jahren, bevor die Straße nach Cilaos gebaut wurde. Monsieur Séry ist 99 Jahre alt und der letzte lebende Sänftenträger aus dem Ort.

Cilaos, das war der Name des Chefs einer Bande geflüchteter Sklaven und bedeutet auf madegassisch „jemand, den man nicht verlässt“. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Berge im Inneren der Vulkaninsel La Réunion im Indischen Ozean Rückzugsgebiet entlaufener Sklaven. Der Sklave Cilaos muss nachts von der Plantage geflohen und immer tiefer in den Bergkessel mit seinen dicht bewachsenen Steilwänden eingedrungen sein.

In Cilaos ist die Luft feucht und klar, in den Cafés sitzen nachmittags Wanderer und Bergsteiger, die von ihrer Tour zurückgekommen sind. 1.200 Meter weiter unten schäumt der Indische Ozean, Wellen umspülen die schwarzen Steine, erkaltete Lava, die sich einst bis zum Meer ergossen hat.

Die Franzosen ließen die Aufständischen nach Réunion deportieren und überließen sie ihrem Schicksal. Als sie nach drei Jahren, in denen keiner nach ihnen geschaut hatte, bei bester Gesundheit angetroffen wurden, nahmen die Franzosen die Insel offiziell in ihren Besitz und begannen, sie zu besiedeln und zu bewirtschaften.

Als die Sklaverei 1848 abgeschafft wurde, mangelte es den „dicken Weißen“ – so werden die Großgrundbesitzer auf La Réunion genannt – an Arbeitskräften, und sie engagierten Vertragsarbeiter aus Indien, Afrika und einige wenige Chinesen. Auch die Straße nach Cilaos wurde von Arbeitern aus Madagaskar gebaut. Nachdem 1815 ein Jäger zufällig die warmen Quellen entdeckt hatte, entstand Mitte des 19. Jahrhunderts die erste Badeanstalt.

Spätestens um sechs Uhr morgens musste Monsieur Séry im Tal sein, um die Herrschaften, die zur Kur nach Cilaos wollten, in Empfang zu nehmen. „Manche waren dick und schwer“, erinnert er sich. Dann schnitt der Lederriemen in den Rücken, und an den Händen bildeten sich Schwielen. Mindestens zu zweit trugen sie den Stuhl, der auf zwei Stangen montiert war, einer hinten, einer vorne, durch enge Schluchten und über wacklige Stege. Sie mussten aufpassen, dass sie nicht von herabfallenden Felsbrocken erschlagen wurden. Auf halber Strecke wurden sie von zwei anderen Sänftenträgern abgelöst, das Gepäck trugen Ochsen. „Mittags um zwölf kamen wir in Cilaos an“, sagt Monsieur Séry. Dann hatte er 20 Franc in der Tasche. Neun Jahre lang, von 1923 bis 1932, arbeitete er als Sänftenträger.

Monsieur Séry stammt von „kleinen Weißen der Höhen“ ab, von verarmten Kleinbauern, die im 19. Jahrhundert den Weg in die Berge gemacht hatten, um der Not zu entkommen. Denn fast alle fruchtbaren Böden im Tal waren unter den Großgrundbesitzern und Zuckerbaronen aufgeteilt. Die „petits blancs des hauts“, die „kleinen Weißen der Höhen“, lebten oft in bitterer Armut, ähnlich wie die Sklaven, die nach der Befreiung die Plantagen verließen und versuchten, sich in den Bergen eine neue Existenz aufzubauen.

Seine Eltern waren damals überhaupt nicht damit einverstanden, dass der Sohn eine Schwarze heiraten wollte. „Wenn du diese Frau heiratest“, sagte der Vater, „dann baue ich dir kein Haus.“

Von allen Ethnien auf La Réunion haben sich Schwarze und Weiße am meisten vermischt und bezeichnen sich am selbstverständlichsten als Kreolen. Obwohl es auf La Réunion von schwarz bis weiß alle Hautfarben gibt und die Menschen stolz sind auf ihre vielfältige Herkunft, war es lange Zeit sehr schlecht angesehen, wenn Schwarze und Weiße einander heirateten.

Eines Tages zu Beginn des Sommers saß in der Sänfte, die François-Josef Séry den Berg hinauftrug, das schwarze Hausmädchen eines reichen weißen Arztes aus der Inselhauptstadt Saint Denis. Dieser verbrachte die Ferien in Cilaos mit seiner Familie und seinem Personal. Der junge Sänftenträger, damals Anfang zwanzig, verliebte sich in die Frau, die er den Berg hinauftrug, und heiratete sie gegen den Willen seines Vaters.

Die junge Frau gab ihre Stelle auf und zog zu ihm nach Cilaos. Da es damals in dem Kurort zwar viele Kranke, aber keine Krankenschwester gab, kümmerte sich Victorine Séry um sie.

Monsieur Séry ist schwer zu verstehen, er spricht kreolisch. Die Sprache entstand zu Beginn der Kolonialzeit auf den Plantagen, zwischen weißen Siedlern und schwarzen Sklaven, die sich nicht verständigen konnten. Über Jahrhunderte haben die Menschen auf La Réunion untereinander nur kreolisch gesprochen, Französisch war die Sprache der Behörden und der „z’oreilles“, der „Ohren“. So werden die Mutterlandsfranzosen von den Kreolen genannt, weil sie die Ohren spitzen müssen, um Kreolisch zu verstehen, lautet eine Legende.

Marie-Louise, die Tochter von François-Joseph und Victorine, spricht gut Französisch. Mehrmals schon hat sie ihren Sohn in Paris besucht. „Das ist sein Restaurant, er kocht kreolische Küche“, sagt sie und zeigt stolz einen Artikel in einer französischen Zeitschrift. Nach seinem Militärdienst ist der Sohn nach Frankreich gegangen, wie viele junge Réunioner. Die Arbeitslosenquote in dem Überseedépartement liegt offiziell bei rund 30 Prozent, unter den 25-Jährigen hat nur jeder Zweite einen Job, obwohl Frankreich jährlich Millionen investiert, damit der Lebensstandard sich mit dem im Mutterland in etwa messen kann.

Nachdem die Straße nach Cilaos gebaut wurde und Monsieur Séry seine Arbeit als Sänftenträger los war, wurde er Landwirt und baute Linsen, Getreide und Gemüse an. Seine Frau arbeitete nicht nur als Krankenschwester, sie wurde auch Mitglied im Gemeinderat. Nach der Hausangestellten des reichen Arztes, die zu dunkelhäutig war, um der Familie zu gefallen, ist heute eine Straße in Cilaos benannt.