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Archiv-Artikel

„Alle saßen bei uns am Tisch“

Zwangsarbeiter, Gestapo, Sammellager gab es auch in Niehl. Doch ältere Niehler tun sich schwer mit der Aufarbeitung der NS-Zeit. Eine Diskussionsrunde versucht, der Verklärung entgegenzuwirken

VON JÜRGEN SCHÖN

Einfache Geländespiele waren es, die die Hitlerjugend veranstaltete, keine Vorbereitungen auf den Militärdienst. Zwangsarbeiter hatten es gut, die deutschen Jungs gingen mit den Mädchen aus Polen und Russland schwimmen, bei den Bauern durften sie mit der Familie am Tisch sitzen. Auch bei Ford und den Glanzstoffwerken ging es ihnen nicht schlecht, schließlich waren die Besitzer Amerikaner beziehungsweise Engländer. Natürlich war es schlimm, was die Nazis gemacht haben. Aber im Kölner Norden, in Niehl, war es eben anders.

So stellt sich für Engelbert Weber, den Vorsitzenden des Niehler Bürgervereins, die Vergangenheit in seiner Heimat dar, wie er sie – bei Kriegsende war er 15 – selbst erlebt hatte. Und viele nicken und klatschen zustimmend, als er dies am Sonntag bei der Veranstaltung erzählt, zu der das „Forum Begegnungen in Europa – Netzwerk gegen Rechts“ eingeladen hat. Anlass ist der 60. Jahrestag der Befreiung des Stadtteils: Am 6. März 1945 waren hier die US-Truppen einmarschiert.

Knapp zwei Dutzend Menschen sind gekommen. Die meisten über 50 Jahre alt, viele haben das Kriegsende zumindest als Kind erlebt, erzählen als Zeitzeugen. Unter ihnen nur eine 25-Jährige und ein 42-Jähriger. Ein leichter Frauenüberschuss, die Alteingesessenen sind gegenüber den Neu-Niehlern in der Mehrheit. „Ich habe auch das Blüchergymnasium und das Gymnasium an der Castroper Straße eingeladen“, sagt Forumssprecher Günther Jikeli, 64, selber einmal Chemielehrer am Blüchergymnasium. „Aber von dort kam keine Reaktion.“ Auch Weber bedauert, dass keine Jugendlichen anwesend sind.

Über das Kriegsende wird nur kurz geredet. Als Kapitulation wurde es anfangs empfunden, schon bald als Befreiung. „Die Bombenangriffe hörten auf“, erklärt Engelbert Weber. Der anwesenden „Jugend“ bleibt es vorbehalten, auf Lücken, auf die einseitige Darstellung der Vergangenheit hinzuweisen. Die junge Frau verweist auf ein Foto von Glanzstoff-Zwangsarbeitern, das viele Anwesenden kennen, wie ihr Nicken zeigt. „Die Menschen darauf sehen nicht nach guter Behandlung aus.“ Und Psychotherapeut Ronald Dittmark stellt klar: „Das waren Sklaven.“ Das bestreitet keiner. „Aber nicht jeder hat sie als Sklaven behandelt“, sagt ein älterer Mann. Gertrud Vogt, 64, erzählt: „Mein Vater, ein SPD-Mann, war Kohlehändler und hatte drei Zwangsarbeiter zugeteilt bekommen: einen Polen, einen Franzosen, einen Ungarn. Alle saßen bei uns mit am Tisch, obwohl das verboten war.“

War das in Niehl die Ausnahme oder die Regel? Es gibt noch andere Zeugnisse. So zitiert die Fotografin Sabine Würich in ihrem Buch „Das Gedächtnis der Orte“ eine polnische Zwangsarbeiterin, die von einem Niehler Bauern geschlagen wurde, und eine Ford-Zwangsarbeiterin, die von schlechter Versorgung, Schlägen und Ausbeutung berichtet. Doch solche Zeugnisse scheinen bei der Diskussion unbekannt. Eher eine Randbemerkung ist auch der Hinweis auf eine Denunziation. Danach wurde eine bekannte, in Niehl lebende Schwedin als „Jüdin“ angezeigt, von der Gestapo verhaftet und misshandelt, ehe sich das „Missverständnis“ aufklärte.

An zwei große Sammellager für Zwangsarbeiter in Niehl, eines davon im legendären, inzwischen hinter einem Supermarkt verschwundenen Ballsaal Schödder, erinnert nicht mal eine Plakette. Ist es Schönfärberei, die „klassische“ Verdrängung der Vergangenheit, die 60 Jahre lang in Niehl die Erinnerungsarbeit beherrschte? Bürgerverein und Forum sind sich einig, dass diese Diskussion der Anfang einer neuen, gemeinsamen Geschichtsaufarbeitung sein kann.

Jikeli zitiert ein altes Kriegstagebuch, das das Geschichtsbild lange Jahre geprägt hat: „Niehl im Krieg 1939 bis 1945“ von Johann Lemper. Der Bürgerverein hat es in den 50er Jahren herausgebracht, viele Niehler Familien besitzen es. Jetzt gibt es das Tagebuch auch auf CD. „Lempers Wahrnehmung hat sich von Kriegsbegeisterung zu Skepsis geändert“, bricht der Neu-Niehler Jikeli, der 1978 zugezogen ist, eine diplomatische Lanze für den Verfasser. „Das Buch muss aus der Zeit heraus verstanden werden“, sagt er und fordert eine Neuauflage, angereichert mit neuen Erkenntnissen. „Nach 60 Jahren ist es höchste Zeit, etwa das Leben der Zwangsarbeiter und das jüdische Leben in Niehl aufzuarbeiten.“

Da nickt sogar Engelbert Weber, der im Vorfeld der Veranstaltung jedem angeboten hat, das Archiv des Bürgervereins zu nutzen. Tausende Dokumente und Objekte sollen sich dort befinden. Vielleicht auch etwas über die vergessene Geschichte der Schuhfabrik Rollmann & Meyer, die im Jahr 1923 mit 850 Beschäftigten der größte Arbeitgeber in Niehl war und deren jüdische Besitzer enteignet wurden.