MODERNES LESEN – VON DIRK KNIPPHALS
: Kracher-Welt

Kai Diekmann (Hg.): „Das Jahr 2004. Bild-Jahrbuch“. 210 Seiten, 9,95 €

Man braucht ein wenig, um sich in diesem Jahrbuch zu orientieren. Die durch Überschriftengrößen, Signalwörter und Seitenabfolgen aufgestellten Codes, die einen durch die tägliche Bild führen, indem sie einem signalisieren, was ernst zu nehmen ist und was nicht, funktionieren hier anders. Und so ist man dieser Foto-Großcollage aus Tränen, blanken Brüsten, Siegerposen und zerstörten Körpern erst einmal beinahe hilflos ausgeliefert. Was das Ganze dabei so pornografisch macht, ist noch gar nicht einmal die viele nackte Frauenhaut, die man sieht; und es sind auch noch nicht einmal die abgerissenen Gliedmaßen, die hier und da über die Seiten gestreut sind. Es ist die Kombination von beidem.

Auf einer Doppelseite sieht man links noch einmal ein Nacktfoto der Schauspielerin Sibel Kekilli, und auf der rechten Seite sieht man ein abgerissenes Bein in einem israelischen Bus nach einem Selbstmordanschlag – klarer als mit dieser Kombination kann man nicht machen, dass es hier um die schlichte Herausarbeitung von Schauwerten geht. Na ja, jedenfalls kann man sich nach Betrachtung dieses Jahrbuchs sicher sein, dass tatsächlich Pressefreiheit in diesem Land herrscht; so schnell wird hierzulande offensichtlich nichts verboten.

Wer Interesse daran hat, die vielen kleinen und großen Schweinereien der Bild-Zeitung aufgedeckt zu bekommen, der sei auf die Homepage bildblogg.de verwiesen; ihre Macher widmen sich mit Akribie der Entlarvungsarbeit. Was einem beim Blättern durch dieses Jahrbuch aber noch viel dringlicher erscheint, das ist fast schon Mitleid mit den Springer-Journalisten. Dieser journalistischen Kracher-Welt, die zunächst nach totaler Freiheit der Möglichkeiten aussieht, sind nämlich sehr enge Grenzen gezogen. Vor allem zwei Tugenden des seriösen Journalismus dürfen sich die Kollegen Boulevardjournalisten gar nicht erst erlauben: tatsächlich Interesse an den Gegenständen der Berichterstattung zu entwickeln und beim Aufschreiben des Artikels daran zu arbeiten, dass man tatsächlich das meint, was man schreibt, und das schreibt, was man meint. Was bei einer seriösen Berichterstattung Grundvoraussetzung der Arbeit ist, würde im Zusammenhang der Bild-Zeitung lächerlich wirken.

Wenn in diesem Jahrbuch Beispiele publizistischer Hochkomik zu vermelden sind, dann sind es denn auch die Versuche, mal eben auf den Ernstdiskurs umzusteigen. Der Autor Norbert Körzdörfer beendet seine Betrachtung des Films „Der Untergang“ mit den Worten: „Ich verließ das Kino nachdenklicher, geläuterter, aufgewühlter, wissender, verzweifelter. Ich dachte an die Gleise, die nach Auschwitz führten.“ Ja ja, schon gut … Pauschal lässt sich feststellen, dass man, sobald jemand im Bild-Kontext ernst zu werden versucht, den Eindruck gewinnt: Der hat sie doch nicht mehr alle!

War Room

„Stanley Kubrick“. Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums Frankfurt am Main. 304 Seiten, 29,90 €

Es gibt ja die These, dass es letztlich Charlie Chaplin war, der Adolf Hitler besiegte. Ist nicht tatsächlich etwas dran an der Behauptung, dass ein Regime, das so dermaßen gründlich, hellsichtig und vor allem witzig verarscht worden ist wie das Naziregime in „Der große Diktator“, nie und nimmer am Ende siegreich sein könne? Zugegebenermaßen anfällig für solche, wenn es hart auf hart kommt, haltlosen historischen Spekulationen, würde ich übrigens noch die These vertreten, dass es Stanley Kubrick war, der in den Sechzigerjahren den Atomkrieg verhinderte.

Darauf gekommen bin ich, als ich neulich den Katalog dieser schönen, großen Ausstellung zu diesem Filmregisseur las, die zuerst in Frankfurt a. M. zu sehen war und nun in Berlin zu sehen ist. Das war auf einer Zugfahrt, bei der ich, von Krakau kommend, über Warschau nach Berlin fuhr. Mittlerweile eine alltägliche Situation; aber während man anlässlich des Katalogkapitels zu Kubricks Film „Dr. Strangelove“ tief in die Zeiten des Kalten Krieges zurücktaucht, kann einen diese Fahrt durch ehemaliges Feindesland noch berühren.

Wie Ken Adams, der Produktionsdesigner, in dem Katalog erzählt, hatte damals die gesamte Filmcrew Angst vor einem Atomkrieg. Die Dreharbeiten zu „Dr. Strangelove“ fanden zeitgleich mit der Kubakrise statt. Eine bedenkenswerte Parallelaktion: Während die Realität sich daranmachte, knapp an einem Atomkrieg vorbeizuschlittern, arbeitete Kubrick daran, ebendiesen Atomkrieg mit den Mitteln der Satire auf den Punkt zu bringen. Und zwar arbeitete er mit genau der gleichen Akribie und Intensität, mit der auch die Wissenschaftler und Militärs an ihren Szenarien gearbeitet haben – detailbesessen, unter Hochdruck.

Was mir während der Zugfahrt klar wurde, ist, dass der War Room aus diesem Film – die Zentrale, von der aus die Geschicke der Welt gelenkt werden – sowieso zu den Zentralkunstwerken des 20. Jahrhunderts zu zählen ist. Kinogeher werden sich an die runde Lampe erinnern, die über diesem großen runden Tisch von der Decke hängt: ein Bild von so wahrhaftiger, perfekter Ambiguität, wie sie Kubrick seinem Anspruch nach stets erreichen wollte. Denn es ist ja nicht nur so, dass dieser War Room das Klaustrophobische des Kalten Krieges in sich enthält. Zugleich enthält er auch den genialen Erfindungsreichtum der Zeit, der sich leider nur in fürs Fortbestehen der Menschheit ziemlich gefährlichen Experimenten zeigte. – Vielleicht ist ja damals während der Kubakrise doch noch deshalb alles gut gegangen, weil letztlich zu viele Menschen sich noch einen lustigen Film über den Atomkrieg ansehen wollten!

Etwas entrückt

Henry David Thoreau: „Walden“. Aus dem Amerikanischen von Emma Emmerich und Tatjana Fischer. Diogenes Verlag, Zürich 2004. 504 Seiten, 15,90 €

Gute Bücher warten auf einen. Manchmal weisen sie sogar noch darauf hin, dass sie warten. So erging es mir mit Henry David Thoreaus Klassiker „Walden“. Das Buch hatte ich vor zwei Jahrzehnten einmal gelesen und als zu großväterlich abgetan. Dann lernte ich neulich eine Frau kennen, die in Berlin direkt gegenüber einer Kneipe namens „Walden“ wohnt. Irgendwann durfte ich zudem feststellen, dass die Klos dieser Gaststätte mit Seiten aus ebendiesem Buch tapeziert sind. Und zu allem Überfluss schickte mir der Diogenes-Verlag aus Anlass einer Neuausgabe das Buch dann auch noch kürzlich unaufgefordert zu (einen artigen Dank auch dafür). Es half alles nichts: Das Buch musste noch einmal gelesen werden.

Eine unbedingt lohnende Lektüre! Während ich mich vor 20 Jahren wohl noch aus eigenen posthippiesken Anwandlungen herausarbeiten musste und deshalb ungnädig mit dem Buch verfuhr, konnte ich beim zweiten Lesen den Experimentcharakter des ganzen Unternehmens viel besser wahrnehmen. Zu der Zeit, da in den USA die großen Trecks nach Westen aufbrechen, geht Thoreau zwei Kilometer in den Wald hinein, baut sich eine Hütte am See und schlägt den Weg von Alltagsbeobachtung und Naturbetrachtung ein – auf der Suche nach profanen Erleuchtungen. Thoreau ist alles anderes als ein Aussteiger! Und er ist übrigens entgegen dem Klischee auch kein Menschenfeind. Vielmehr verfolgt er ein Programm, sich selbst und der Zeit, in der er lebt, auf den Grund zu kommen, indem er sich selbst aus den gewohnten Lebenszusammenhängen etwas entrückt.

Die Abenteuer fangen nicht mit Trecks nach Westen oder Expeditionen in die Wildnis an. Sie beginnen gleich um die Ecke. Das ist die eigentliche Provokation, die von diesem Buch ausgeht. Was Thoreau betreibt, ist eine Ethnologie des Inlands. Das Experiment seines Lebens als großes Abenteuer zu verkaufen, das kann man von ihm lernen.