: Das heiße Herz des Jochen Dersch
Grau steht der Tann am Schalsee. Schlossherr Jochen Dersch lässt seinen Blick schweifen ins Dunst verhangene Land. Hier, auf seinem Anwesen im Holsteinischen, verwandelt Dersch klassische Literatur in Groschenhefte. Welches Meisterwerk wird er wohl diesmal verfassen? „Die Räuber“ hat er schon geschrieben, und sein „Faust I“ wird bereits seit langem mit Begeisterung gelesen… Von unbegreiflicher Melancholie umflort schaut der graumelierte Mann in den besten Jahren in jene sanft hügelige Gegend um Mölln und seufzt: Ach!, bevor er zu Feder greift. Wäre es die Empörung spröder Feuilletonisten, die ihm, der doch einst selbst für große deutsche Postillen arbeitete, die Schwermut aufs Herz legt …?
er Mann mit dem Seehundbart deklamiert: „ottos mops trotzt otto: fort mops fort. ottos mops hopst fort.“ Jochen Dersch lacht, „phänomenal“. Er liebt Ernst Jandl, die konkrete Poesie. Er selbst schreibt Groschenhefte. Jochen Dersch ist Journalist und schreibt Dramen wie „Die Räuber“ und „Romeo und Julia“ um. Er liest einen Klassiker, erzählt die Handlung in einfachem Deutsch nach und verlegt die Geschichte als Groschenheft, dünn das Papier, groß ist die Schrift, 128 Seiten, 2 Euro 90. Die Werke „frei nach Schiller“, „frei nach Goethe“ oder „frei nach Shakespeare“ finden ihre Leser, die Groschenheft-„Räuber“ beispielsweise wurden über 10.000 Mal verkauft.
Jochen Dersch schreibt in einem Schloss in Schleswig-Holstein, in dem Dörfchen Seedorf am Schaalsee, nahe Mölln. Von seinem Arbeitszimmer aus, unter dem Dach des Schlosses, sieht er hohe Tannen und den eisgrauen See, über dem schwer der nordische Himmel hängt. Hier lebt Dersch als Mieter in einem Schlossanbau, zusammen mit Frau und Sohn und vielen Büchern und vielen Zigarren.
„Schändlicher, dreimal schändlicher Karl! Ahndete mir‘s nicht, da er, noch ein Knabe, den Mädels so nachschlenderte, mit Gassenjungen und elendem Gesindel auf Wiesen und Bergen sich herumhetzte, den Anblick der Kirche, wie ein Missetäter das Gefängnis, floh...“ So spricht Franz von Moor in „Die Räuber“ von Friedrich Schiller. Er berichtet seinem Vater über das miserable Benehmen des Bruders. „Oh Vater“, ruft Franz. „Nimm es dir nicht so zu Herzen. Das war doch seit geraumer Zeit abzusehen. Dieser ... dieser blöde Typ, der macht die ganze Familie kaputt!“ So spricht Franz an der gleichen Stelle in „Die Räuber“ von Jochen Dersch – „moderne zeiten“ heißt sein Verlag, in dem er die Hefte herausgibt.
„Entmannte Klassiker“, „verstümmelt“, „auf dem Niveau einer Daily Soap“, schreiben Journalisten, „literarisches Fast Food“, sagt der Reclam-Verlag. Dersch trifft bei Bildungsbürgern einen Nerv. Und findet: „Das sind doch all‘ die, die selbst Kurzzusammenfassungen lesen, damit sie beim nächsten Stehempfang mitreden können.“
Vor zehn Jahren, erzählt Dersch, ist seine Tochter abends vom Gymnasium nach Hause gekommen, schimpfend über die „Räuber“ und Schiller und dessen Sprache, „dieses gesteltzte Dahergegockel“, das kein Mensch verstehe. Ob er ihr nicht einfach die Räuber-Geschichte erzählen könne, bittet die Tochter den Vater, was dieser gerne tut. Jochen Dersch hat Germanistik studiert.
Eine Woche später kommt die Tochter erneut, gleiche Bitte, anderes Werk, später stoßen Freunde der Tochter dazu, die auch lieber hören als lesen. Dersch erzählt die großen Dramen in heiterer Runde. „Die fanden das cool, die mochten es, dass ich das so ein bisschen flapsig erzählt hab‘.“ Dersch sagt viele, schnelle Sätze, aber ohne Hektik. Erzählt die Geschichte der Lauenburger Gräfin, der das honigfarbene Schloss einst gehörte. Erzählt von der Architektur zu Shakespeares Zeiten und von der Gattin des britischen Konsuls in Hamburg, die so fürchterlich Klavier spielte. Und lacht, glucksend aus dem Bauch heraus. Jochen Dersch ist stämmig, mit festen Schultern, Strickjacke und grauem Haar.
Gedacht waren die Groschenhefte ursprünglich für die „‚Julia‘ lesende Hausfrau“, sagt Dersch, aber nun kaufen viele Schüler die vereinfachten Klassiker, im Buchladen oder über das online-Portal www.school-scout.de. Dorthin schreibt ein Schüler – begeistert vom Dersch‘schen Faust 1 –, dass er auf der Suche sei nach der Fortsetzung: „Ich muss ja auch noch Faust 2 lesen, um zu wissen, wie es endet!“ Dersch glaubt, dass die Schüler durch seine Erzählungen Lust auf das Original bekommen. Belege dafür, dass der Leser, der den Dersch kennt, auch den Goethe sucht, gibt es keine. „Es ist meine Hoffnung“, sagt Dersch.
Als alles begann, im Jahr 2003, schrieb er an einem Groschenwerk vier Wochen lang, inzwischen dauert es nur noch zwei bis drei. „Der Schimmelreiter“, „Unterm Birnbaum“, „Kabale und Liebe“ hat er umgetextet, als nächstes erscheint „Hamlet“. Das Reclam-Heftchen neben sich, fasst Dersch die Handlung der Dramen zusammen, Akt für Akt. Ob das wohl schwer ist, ein Leiden am Vorbild, ein zähes Ringen mit Worten um Stimmung und Tiefe des Originals? „Nein, gar nicht“, sagt Dersch. „Ich glaube nicht, dass die Charaktere in den Dramen sehr kompliziert sind.“
Die großen Autoren hätten ihre Geschichten so angelegt, dass wenig Zweifel aufkämen, wo der Hase inhaltlich ‘langläuft. „Was Schiller vorhat mit der Figur des Franz, das spürt man ja, Franz ist eben das Schwein“, sagt Dersch. Für ihn geben die Geschichten dem Leser eine Antwort, sie werfen ihn nicht in die Weiten des Fragens und Haderns und Suchens. Dersch hat ein Stehpult, auf dem liegt ein kleines Stück Holz, Goethe und Schiller stehen als Figuren darauf. Hebt man das Holz hoch und drückt am Boden auf zwei Knöpfe, so wackeln die beiden alten Herren mit den Köpfen und kippen hin und kippen her.
Als Journalist hat Jochen Dersch für die FAZ, die Bild-Zeitung und die Welt gearbeitet; „ehemaliger Bildzeitungsredakteur“ schreiben die meisten, die über ihn berichten; dort war er vier Jahre. Inzwischen arbeitet er frei für Zeitungen und Zeitschriften, schreibt die Groschenhefte und betätigt sich als Ghostwriter. Er hat Gesundheitsbücher für Ärzte verfasst und ein Buch über Käse für die Milch-Industrie, Auftragsarbeiten. Einmal hat er auch ein Werk für Pelz-Produzenten geschrieben. „Nee, politisch korrekt war das mit den Pelzen nicht, stimmt“, sagt Dersch, und lacht.
Zuletzt hat er bei der Welt gearbeitet, als Redaktionsleiter für Norddeutschland. Aber fest angestellt wollte er irgendwann nicht mehr sein, er wollte die Idee mit den Groschenheften umsetzen. „Es macht mir einfach Spaß, mich mit Literatur zu befassen – auch wenn ich das auf eine Art und Weise tue, die viele nicht so gut finden.“
Dinge zusammenzufassen, das hat er bei der Bild-Zeitung gelernt, und keinen Respekt zu haben vor großen Namen. Während der Wendezeit hat er viele Geschichten aus der untergehenden DDR in Bild erzählt, über Kati Witt berichtet, dass sie kostenlos in einem Stasi-Bungalow wohne. Oder über einen Krankenhaus-Arzt, der Menschenversuche machte. Er spritzte seinen Patienten Viren. „Das Grauen hat einen Namen! Dr. Poppe“, titelte Bild. „Mengele kann nicht schlimmer gewesen sein“, sagt Dersch.
Gretchenfrage: Wenn man die Klassiker vereinfacht, verlieren sie dann nicht bis zur Wertlosigkeit? Dersch blickt nach unten, denkt in seinen Vollbart und sagt dann, das hänge vom Leser ab. „Ich kann jemandem, der keine Ahnung hat von Physik, nicht alle Details der Relativitätstheorie erklären – bei einem promovierten Physiker müsste ich hingegen differenziert sein.“ Der Leiter der ZDF-Kultursendung Aspekte, Wolfgang Herles, habe gesagt, „er lese lieber das Original als die Erzählungen von Dersch“. „Da kann ich nur sagen: Ich auch“, sagt Dersch. „Aber die Hefte schreibe ich nun mal nicht für mich und Herrn Herles, sondern für Menschen, die nicht so gerne lesen.“
Dorothea Siegle