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Archiv-Artikel

„Jetzt ist die Chance, umzudenken“

Erwerbsarbeit gilt in der modernen Gesellschaft als wichtigste Lebensgrundlage. Dabei hat nur ein Drittel aller Deutschen eine feste Stelle. Der Sozialphilosoph Kurt Röttgers über Protestantismus und Gerechtigkeit

Kurt Röttgers

■ Jahrgang 1944, ist Professor für praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Fern- Universität Hagen. Er ist Mitherausgeber des Historischen Wörterbuches der Philosophie. 2008 erschien die Publikation „Sinn von Arbeit“, die er mit Wieland Jäger herausgab. FOTO: Verlag

Warum hat Arbeit in unserer Gesellschaft einen derart hohen Stellenwert?

Das hat eine lange Tradition, die – nach Max Weber – in der Renaissance begonnen hat und insbesondere durch den Protestantismus veranlasst wurde. Allerdings ist die Überbewertung der Arbeit heute ja flächendeckend.

Das hat auch mit einem Wandel der Ökonomieauffassung zu tun. In der Antike und im frühen Mittelalter war die Ökonomie auf den Bedarf ausgerichtet. Im späten Mittelalter setzte sich dann eine auf Eigentum und Tausch ausgerichtete Ökonomie durch. Das heißt auch, dass jeder für die Deckung seines Bedarfs selbst aufkommen muss, während im Mittelalter zum Beispiel ein ausgeklügeltes System der Armenpflege existierte. In der Ökonomie der Neuzeit ist das gar kein Thema mehr, weil nicht mehr der Bedarf das eigentliche Orientierungssystem ist, sondern die Leistung des Einzelnen.

Heißt das, wir haben die Überbewertung der Arbeit Martin Luther zu verdanken?

Nein, gerade nicht Luther, sondern Calvin und dem reformierten Protestantismus, der sich durch die Lehre der Prädestination, also Vorherbestimmung des Heils, auszeichnet. Die Auserwählten konnte man daran erkennen, dass sie schon in dieser Welt Erfolg haben. Deshalb musste man Zeichen des Erfolgs setzen, um zu beweisen, dass man dazu gehörte. Das ist bei Luther ganz anders, weil bei ihm der Begriff der Gnade zentral ist.

Welche Probleme bringt unser derzeitiges System Ihrer Meinung nach mit sich?

Die kapitalistische Ökonomie erzeugt genau auf der Ebene des Bedarfs Probleme. Es gibt nun Menschen, die nicht genug haben. Die Armen, oder wie man um 1800 sagte, die „Paupers“ oder danach die „Proletarier“, also Menschen, die von der Arbeit nicht mehr leben können, weil das System eben nicht perfekt ist. Man muss sehen, wie man Abhilfe schafft.

Das System der sozialen Marktwirtschaft, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aufgebaut wurde, ist ein Mischsystem. Grundsätzlich ist es kapitalistisch, aber es sorgt dafür, dass es niemandem zu schlecht geht. Jeder soll eigentlich überleben können.

Wie hat sich das kapitalistische System in sich seit seiner Existenz gewandelt?

Der frühe Kapitalismus nahm auf die Benachteiligten gar keine Rücksicht. Es gab immer Menschen, die ein weiches Gewissen hatten und den Armen halfen, aber im System war das nicht vorgesehen. Das wurde erst durch die Sozialgesetzgebung von Bismarck ein bisschen aufgefangen, und in der sozialen Marktwirtschaft ist es zum Prinzip geworden, die Probleme des Kapitalismus durch andere gesellschaftliche Einrichtungen aufzufangen.

Ob das auf Dauer so bleiben wird, ist die Frage. Beispielsweise im Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR kommt das Stichwort soziale Marktwirtschaft gar nicht vor. Und im Vertrag über die Sozialunion kommt der Begriff der sozialen Marktwirtschaft nur programmatisch vor, ohne dass er irgendwie eingelöst würde, so dass man heute eigentlich sagen kann, dass er zum Schlagwort geworden ist, bei dem jeder an etwas Feierliches denkt, was aber nicht mehr wirklich bewegend ist für diese Menschen.

In Deutschland geht nur ein Drittel der Bevölkerung einer Erwerbstätigkeit nach. Ist das System noch tragbar?

Das ist eine berechtigte Frage, auf die ich natürlich keine direkte Antwort habe. Es ist wohl ausgeschlossen, wieder in die bedarfsorientierte Ökonomie der Antike zurückzukehren. Man könnte die Befürchtung haben, dass der Kapitalismus nun sein wahres Gesicht zeigt.

Es muss auch berücksichtigt werden, dass die Gesellschaft aus verschiedenen Subsystemen besteht. Die Ökonomie ist nur eines dieser Subsysteme, aber im Moment gibt es eine Entwicklung, sie für das dominante, das entscheidende System der Gesellschaft zu halten. Das ist natürlich eine problematische Entwicklung, weil dann der Ort für eine ethische oder soziale Orientierung zunehmend verschwindet. Dabei ist Ökonomie eigentlich dazu da, dem Menschen zu dienen, sie ist kein Selbstzweck.

Wie lassen sich die Konflikte, die durch die gegenwärtige Überbewertung der Ökonomie verursacht werden, lösen?

Man hat nicht immer die Möglichkeit, über Lösungen nachzudenken. In der derzeitigen Krise jedoch können wir grundsätzliche Fragen stellen: Was wollen wir eigentlich? Und wohin soll es gehen? Die Politiker neigen jedoch momentan zu kraftmeierischen Gesten, man müsse die Manager an die Kette legen und so weiter. Ich glaube erstens nicht, dass die Politiker dies ernst meinen, und zweitens sind auch die Maßnahmen, wie man sehen kann, sehr beschränkt.

Wäre das bedingungslose Grundeinkommen eine denkbare Alternative?

In den gegenwärtigen Diskussionen ist es schwierig, diesen Gedanken ins Feld zu bringen. Es hat immer wieder mal Leute gegeben, die die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens attraktiv gemacht haben. Aber grundsätzlich verlangen solche Modelle eine gesellschaftliche Umverteilung des Reichtums. Gegenüber liberalistischen oder auch auf Arbeitsmoral begründeten Systemen ist es schwierig, zu sagen: Jeder Mensch hat eigentlich ein Recht darauf, würdig und angemessen zu leben. Nur wenn man diesen Grundsatz anerkennt, dann liegt der Gedanke ziemlich nahe, dass jedem gegeben werden soll, was er braucht, um so zu leben, und wenn er mehr haben will, muss er arbeiten.

Das würde auch sehr viel an Verwaltung vereinfachen. Man muss nicht mehr als Hartz-IV-Empfänger nachweisen, wie bedürftig man ist. Das hieße aber, dass denen, die mehr arbeiten, ein Großteil des Erwirtschafteten weggenommen werden muss.

Und da liegt das Problem. Denn diese Gesellschaftsgruppe wird es als extrem ungerecht empfinden, für die mitzuarbeiten, die sagen: Mir reicht die Grundversorgung. Die würden dagegen natürlich rebellieren, und deshalb wird es nicht durchsetzbar sein. Aber es wäre natürlich ein attraktiver Gedanke.

Wäre die Entmachtung der Reichen die einzige Hürde oder entsteht dabei auch für diejenigen ein Konflikt, die sich über Arbeit definieren?

Es gibt inzwischen eine Reihe von Menschen, die sich nicht mehr über Arbeit definieren, weil sie es gar nicht mehr können und ihnen jede Chance genommen wurde, überhaupt noch Arbeit zu finden. Diese Menschen versuchen kompensatorisch, den Sinn woanders zu suchen, etwa in ehrenamtlichen Tätigkeiten, auf die die Gesellschaft in hohem Maße angewiesen ist. Einige von den Erwerbslosen gehen wirklich kreativ damit um. Es ist nicht unbedingt die Lohnarbeit, die den einzigen Sinn des Lebens darstellt. Man hat eine Rechnung aufgestellt, nach der bis vier Stunden Arbeit pro Tag ausreichen würden, um den Bedarf zu decken, den die Menschen normalerweise hätten. Der achtstündige Arbeitstag ist demnach absolut überflüssig. Die Menschen könnten die restliche Zeit in andere Dinge investieren, die auch aus Arbeit bestehen könnten, wie ehrenamtliche Tätigkeiten oder die Kunst. Anstatt der finanziellen Bestätigung stünde dann die soziale Anerkennung im Vordergrund. Und das nenne ich Muße – eine angemessene Zeit, die nicht ohne sinnvolle Tätigkeit ist.

In ihrem Buch wird allerdings erwähnt, dass viele Menschen heutzutage schon überfordert mit ihrer Freizeit sind. Wie würden die damit umgehen, wenn sie noch mehr Freizeit hätten?

Genau das ist der Unterschied zwischen Muße und Freizeit; Freizeit als arbeitsfreie Zeit bedeutet noch keineswegs, dass diese mit Sinn aufgeladen ist. Freizeit wird dann tatsächlich oft mit bloßem Konsum, zum Beispiel Fernsehen, gefüllt, ohne dass sich ein mit Arbeit analoger Sinn ergäbe.

Sie sagten, dass das hohe Ansehen der Lohnarbeit charakteristisch für die protestantisch geprägten Länder ist. Stimmt es also, was viele Menschen in anderen Ländern sagen, die Deutschen lebten für die Arbeit, sie arbeiten dagegen, um zu leben?

Das ist typisch für Länder, die durch den Protestantismus modernisiert wurden. Es ist eine durchgehende Struktur der Moderne. In anderen Kulturen arbeitet man nicht vorrangig, um Geld zu akkumulieren.

Vielleicht kennen Sie den Witz: Ein Fischer liegt am Strand und tut nichts. Ein Yankee tritt hinzu und fragt: „Warum liegst du hier faul herum?“ Der Fischer: „Ich habe heute Morgen zwei große Fische gefangen, das reicht für die Abendmahlzeit.“ – „Du könntest noch mehr große Fische fangen.“ – „Wozu?“ – „Du könntest die Fische verkaufen und das Geld sparen.“ – „Wozu sollte ich sparen?“ (nach einigen weiteren Fragen und Antworten:) – „Du könntest dir eine Fischfabrik zulegen.“ – „Was soll ich mit einer Fischfabrik?“ – „Du könntest andere Leute für dich arbeiten lassen und dich selbst in die Sonne legen.“ – „Aber das tue ich doch bereits!“

Allerdings darf man die Akkumulation auch nicht verteufeln, weil es eine sinnvolle, kluge Vorsorge für Eventualfälle ist, und zwar in einer Gesellschaft, in der nicht mehr die Familienstrukturen dafür sorgen, dass jemand aufgefangen wird, der aus dem System herausfällt. Da, wo dieses gewährleistet ist, da ist es in der Tat so, dass man diese kluge Vorsorge als Individuum nicht zu betreiben braucht.

INTERVIEW: RUTH WOLTER