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Archiv-Artikel

Der ewige Onkel ist hinter Gittern

VON BERND PICKERT

Der Alte lächelt, als er in einem Rollstuhl in die Polizeiwache geschoben wird. 84 Jahre ist er, deutscher Staatsbürger, seit acht Jahren untergetaucht: Paul Schäfer, Gründer und seit 1961 autoritäre Führer der berüchtigten „Colonia Dignidad“ (dt.: Kolonie der Würde) in Südchile, sitzt in Haft. Am Donnerstag nahm ihn die argentinische Polizei in Tortuguitas fest, einer Reichensiedlung 40 Kilometer außerhalb der Hauptstadt Buenos Aires. Schäfer sagte kein Wort, hatte keine Papiere bei sich.

Noch ist unklar, seit wann der greise Sektenführer in Argentinien lebte. Als die chilenische Justiz ab 1996 endlich Ernst machte mit der Verfolgung der unzähligen Straftaten, die der Colonia und Paul Schäfer persönlich vorgeworfen werden, tauchte er unter, seine Spur verlor sich. Glaubten anfangs noch viele, er befinde sich auf dem 17.000 Hektar großen Gelände der Colonia, kontrolliere von einem der unterirdischen Bunker aus weiterhin das Leben der schätzungsweise 200 deutschen und 100 chilenischen Bewohner der Kolonie, so wurde in den letzten Jahren immer klarer, dass Schäfer die Colonia und wohl auch das Land verlassen hatte. Es war die zweite Flucht des Paul Schäfer. Ende der 40er-Jahre war Schäfer, im Krieg als Krankenpfleger eingesetzt, als Sozialarbeiter der evangelischen Kirche beschäftigt – wegen drakonischer sexualisierter Strafen für Jugendliche hinausgeworfen worden und begann ab 1950 eine Karriere als charismatischer fundamentalistischer Laienprediger. Das brachte ihn mit dem Baptistenprediger Hugo Baar zusammen, mit dem er in Siegburg bei Bonn 1956 eine Jugendheimstatt gründete, die „Private Sociale Mission“. Sein Verbrechen: Er vergewaltigte die zwölfjährigen Jungen, die ihm anvertraut worden waren.

Wie das ablief, beschreibt Wolfgang Kneese, der als Kind von seiner Mutter nach Siegburg gebracht worden war, 1997 gegenüber der taz so: „Paul Schäfer hatte das Prinzip, dass er eines der Kinder als seinen Diener zu sich holte. Diese Kinder waren den ganzen Tag von schwerer Arbeit befreit und konnten sogar die Kommandos von Schäfer an Erwachsene weitergeben. Am Abend duschte man dann mit den anderen Jungen zusammen, und dann kam Paul Schäfer und seifte einen ein, spielte an den Genitalien herum und flüsterte einem ins Ohr, man solle doch schon mal in sein Zimmer gehen, er würde gleich nachkommen. In diesem Zimmer setzte man sich dann in aller Regel auf einen Stuhl vor eine Höhensonne, in der man sich nackt bräunte. Schäfer schlich wie ein räudiger Kojote um einen herum. Man hatte eine Augenschutzbrille wegen der Höhensonne auf, man konnte ihn nicht sehen. Und dann landete man in den Händen von Schäfer.“

Als ein Elternpaar die Praktiken dann endlich anzeigte, ergriff Schäfer die Flucht. Im Juli 1961 gelangte er nach Chile, wo er im September die Colonia Dignidad gründete. Die Erwachsenen und die Kinder, die er schon in Siegburg unter seine Obhut genommen hatte, waren die ersten Einwohner auf dem Gelände, das Schäfer mit dem Geld aus dem Verkauf seines Siegburger Heims an die Bundeswehr erworben hatte.

Die Colonia Dignidad wurde eines der düstersten Kapitel der chilenischen Geschichte. In einem hinterhältigen System von religiöser Gehirnwäsche, Erpressung und körperlichem wie seelischem Zwang hielt der Sektenchef seine Untertanen gefangen, die meisten ohne jeden Kontakt zur Außenwelt. Angehörige in Deutschland erhielten regelmäßig Post – dass die Briefe, die von einem ruhigen, guten Leben berichteten, alle gleich lauteten, erfuhren sie erst in den 80er-Jahren, als sich in Deutschland die „Not- und Interessengemeinschaft Colonia Dignidad“ gründete. Einer der Mitbegründer: Wolfgang Kneese, dem in den 60er-Jahren unter abenteuerlichen Umständen als Erstem die Flucht aus der Colonia gelungen war.

Obwohl Kneese schon damals den deutschen und den chilenischen Behörden detaillierte Auskunft über die Vorgänge in der Kolonie gegeben hatte, geschah nichts. Klagen wurden niedergeschlagen, ein Heer von Anwälten kämpfte für die Sekte, CDU- und CSU-Politiker – allen voran Franz Josef Strauß – hielten ihre Hand über Schäfer.

Die Colonia erlebte während der Pinochet-Diktatur eine neue Blüte: mit Kameras, Stacheldraht und Wachhunden abgeschottet, ausgestattet mit einer eigenen Landebahn und reichlich Platz, wurde sie bald zum Folterlager des chilenischen Geheimdienstes Dina. Dessen Chef, Manuel Contreras, war persönlich mit Schäfer befreundet. Sowohl im 1991 veröffentlichten „Rettig-Bericht“ über die Verschwundenen der Diktatur als auch im kürzlich vorgestellten „Valech-Bericht“ über die Folterungen unter Pinochet nimmt die Colonia einen prominenten Platz ein. Bis zu 120 Personen könnten in der Colonia ermordet worden sein.

Das Ende der Diktatur bedeutete nicht das Ende der Colonia Dignidad oder der Führung Paul Schäfers. Weiterhin genoss das als soziale Einrichtung getarnte Unternehmen die Steuerbefreiung des chilenischen Staates – erst Mitte der 90er-Jahre wurden Ermittlungen wegen Steuerhinterziehungen in der Größenordnung von fast 600 Millionen US-Dollar eingeleitet. Kein Wunder, dass Schäfer sich bei seiner Flucht um Geld keine Sorgen zu machen brauchte.

Erst als in den 90er-Jahren auch chilenische Kinder, die in die Schule der Colonia gingen, die inzwischen mannigfach dokumentierten Missbrauchsvorwürfe gegen Schäfer bestätigten, wurde die Justiz aktiv und erließ Haftbefehl. Mehrfach durchsuchte die Polizei die Colonia Dignidad – jeweils stellte sich heraus, dass die Führung vorher gewarnt worden war. Schäfer ist weg. Wie er aus Chile herausgekommen ist, wann genau er nach Argentinien eingereist ist, ist noch nicht bekannt. Sicher ist, dass die Recherche einer argentinischen Fernsehjournalistin die Polizei auf seine Spur brachte. Davon wusste auch Wolfgang Kneese, der seit Jahren mit seinem Verein Flügelschlag e. V. von Hamburg aus juristische Verfahren in Chile gegen die Colonia ins Rollen bringt. Als am späten Donnerstagabend die Nachricht von Schäfers Verhaftung über die Agenturen geht, ist Kneese, heute 60 Jahre alt, gerade auf dem Flughafen, unterwegs nach Chile. Paul Schäfer, der „ewige Onkel“, der Kneeses Leben seit fast fünfzig Jahren geprägt hat, ist hinter Gittern. Endlich.