: „Augen auf und Hand aufs Geld“
Winfried Roll
Für die einen ist er der Präventionspapst Berlins. Für andere das Verhüterli des Polizeipräsidenten. Wenn die Kriminalität in Berlin 2004 um über 4 Prozent gesunken ist, dann ist das auch das Verdienst von Winfried Roll, 60. Er war 1976 der Mann, der bei der Polizei den Bereich Kriminalitätsvorbeugung aufbaute. Unter seinen Kollegen wirkte der studierte Jurist und Jerry-Cotton-Fan wie der Pfau im Hühnerhof. Damals herrschten in der Behörde noch merkwürdige Ansichten vor. Seine Englandbesuche haben Roll auf so manche gute Idee für Kampagnen zur Verhinderung von Straftaten gebracht. Ende März ist Schluss damit. Dann geht der Kriminaldirektor in Ruhestand
INTERVIEW PLUTONIA PLARRE
taz: Herr Roll, wie lange dauert es, bis ein Einbrecher nervös wird, wenn er das Schloss einer Haustür nicht aufkriegt?
Winfried Roll: Wenn er nach fünf Minuten nicht drin ist, versucht er es noch drei Minuten an einer anderen Stelle. Aber dann gibt er auf.
Was folgt daraus?
Dass solide, mechanische Sicherungstechnik immer noch das Beste ist, um einen Einbruch zu verhindern.
Was gibt es noch für Faustregeln?
Licht, Lärm, Leute. Die drei großen L der Prävention. Aber Einbruch spielt im Kriminalitätsgeschehen der Stadt seit ein paar Jahren kaum noch eine Rolle. Auch Autos und Fahrräder werden viel weniger geklaut. Selbst beim Taschendiebstahl sehen wir Licht am Horizont.
Nach 30 Jahren Kriminalitätsprävention haben Sie es also geschafft, sich rechtzeitig zum Eintritt in den Ruhestand überflüssig zu machen?
Schön wär’s. Das Ziel der klassischen Prävention – Schutz des Eigentums – haben wir erreicht. Die neue Herausforderung lautet: Schutz vor Gewalt. Am meisten Sorge bereitet uns die hohe Jugendgewaltkriminalität, bei der junge Menschen mit Migrationshintergrund doppelt so häufig vertreten sind wie ihre deutschen Altersgenossen.
Wissen Sie eine Antwort?
Die Integration hat versagt. Die zentralen Stichworte lauten Bildung und Ausbildung. Hier müssen alle anpacken.
Im Innenausschuss wird heute über die Kriminalstatistik 2004 diskutiert. Im Vergleich zum Vorjahr gibt es in Berlin über 4 Prozent weniger Straftaten. Warum wird so etwas so wenig von der Öffentlichkeit honoriert?
Laut Umfragen ist das Sicherheitsgefühl der Deutschen so gut wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Angst, Opfer einer Straftat zu werden, ist zum Teil gänzlich irrational und ausgerechnet bei den Menschen am größten, die am wenigsten von Kriminalität betroffen sind.
Wer ist das?
Alte Leute. Das Risiko, auf der Straße ausgeraubt und verprügelt zu werden, ist für einen 14- bis 18-Jährigen ungefähr 40-mal so hoch wie für die Generation seiner Großeltern, also die über 60-Jährigen. Insofern freue ich mich, dass ich jetzt zu den statistisch Alten gehöre, weil man da wesentlich sicherer lebt.
Sind Sie schon mal selbst Opfer einer Straftat geworden?
Das Einzige war der Verlust einer Fotokamera durch Autoeinbruch. Das war vor 40 Jahren in London.
Was haben Sie unternommen?
Mich geärgert, die Sache bei der englischen Polizei angezeigt und nie wieder etwas davon gehört. Seitdem lasse ich keine Wertsachen mehr im Auto. Ich war auch einer der Ersten, die mit Sicherheitsgurt fuhren, nachdem mir auf der Heimfahrt von London auf der Autobahn auch noch der linke Hinterreifen geplatzt ist. Bei der Gelegenheit habe ich mir die achte Narbe am Kopf zugezogen.
Woher kommen die anderen sieben?
Von einem Autounfall mit meiner Großmutter. Da war ich sechs.
Das hat Sie aber nicht gehindert, sich sehr für schnelle Autos zu begeistern?
Kann man so sagen. Und für die Farbe Rot habe ich ein Faible.
Jerry Cotton, der Groschenromanheld Ihrer Kindheit, fährt einen roten Jaguar.
Kann schon sein, dass mich das geprägt hat.
Es heißt, Cotton habe Sie zur Polizei gebracht.
Auf Umwegen, ja. Ich gehöre zu den glücklichen Menschen, die Jerry Cotton 1954 noch in der Originalausgabe gelesen haben. Das war für mich eine faszinierende, fremde Welt. Die Schreibweise im Ich-Stil und die detailgetreue Schilderung haben mir gefallen. Mit 13 habe ich mir ein Herz gefasst und an das FBI in New York geschrieben. Dort spielen die Romane ja. Ein Field Officer schrieb mir zurück, dass es sich um eine fiktive Romangestalt handelt. Das hatte ich schon vermutet.
Die zudem aus Deutschland kommt.
Ja. So wie Winnetou aus Dresden. Aber das habe ich erst viel später erfahren. Egal. Für mich war Cotton der Auslöser, mich intensiv mit der Polizei zu befassen. Das Nächste war, an die FBI-Zentrale in Washington zu schreiben. Von der Arbeitsweise über die Dienstmarke bis zur Ausrüstung – ich wollte alles wissen.
Hat man Ihnen geantwortet?
Die Briefe waren immer von John Edgar Hoover unterschrieben, der 50 Jahre an der Spitze des FBI stand. Dessen Leistungen habe ich später in einem Bericht für eine Polizeifachzeitschrift gewürdigt.
Hoover war ein extremer Gegner der Schwarzen- und Hippiebewegung. Hat Sie das nicht gestört?
Ich bin bis zur Interesselosigkeit apolitisch. Auch mit der Studentenbewegung hatte ich nichts am Hut.
Sie kommen aus einem bürgerlichen Elternhaus?
Das kann man so sehen. Vater hat Mutter verlassen, als ich ein Jahr alt war. Die ersten vier Jahre meines Lebens habe ich bei meiner Oma in Woltersdorf bei Erkner gewohnt, weil meine Mutter eine eigene Praxis als Krankengymnastin aufgebaut hat. Nebenbei hat sie noch Yoga unterrichtet. Zum meinem Bedauern war ich Einzelkind.
Sie haben sich gelangweilt?
Ich war ein ausgesprochener Stubenhocker, hatte eigentlich keine Spielkameraden. Ich habe gelesen oder bin mit dem Hund spazieren gegangen. Mutter und ich wohnten Unter den Eichen in Dahlem. Meine einzige Beziehung war die zu einem Schutzmann, der an der Drakestraße die Ampel bediente, die an Drahtseilen hoch über der Kreuzung hing. Ich habe ihm stundenlang zugeguckt und mich mit ihm unterhalten.
1969 sind Sie dann selbst zur Polizei gegangen.
Gleich beim Einstellungsgespräch habe ich klar gemacht, dass ich Kriminalitätsvorbeugung machen möchte. Für meine Kollegen war ich so eine Art Pfau im Hühnerhof, weil ich nach dem Abitur acht Semester Jura studiert hatte. Eigentlich wollte ich Kriminologe werden. Aber nach dem Schriftwechsel mit FBI, später Scottland Yard und Interpol, hatte ich Interesse an Kriminalistik gefunden. Das konnte man aber nur in Freiburg studieren. Also habe ich das Studium geschmissen und mich bei der Polizei beworben.
England ist, was Prävention angeht, immer ein Vorbild für Sie gewesen?
Vieles von dem, was hier erst in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist, habe ich dort schon vor 40 Jahren vorgefunden. Zum Beispiel die große „Lock-up London“-Kampagne zur Verhinderung von Einbrüchen. Oder den Wettbewerb „Children help the Police“. Das haben die in den 60er-Jahren gemacht, als die Polizei in Deutschland weder über noch mit Kindern gesprochen hat.
Auch sonst hat sich in den 30 Jahren Ihrer Tätigkeit bei der Berliner Polizei viel verändert.
Delikte wie häusliche Gewalt existierten früher nicht. Es herrschte die Ansicht vor: Das ist Privatsache. Stalking, also Belästigung, war für uns selbst vor fünf Jahren noch ein Fremdwort. Als Beamter fragte man: Ist was passiert? Wenn nichts passiert war, hieß es: Das geht uns nichts an. Früher wäre undenkbar gewesen, dass Polizisten Opfer an Kriseneinrichtungen vermitteln. Das Gewaltschutzgesetz hat da viel bewirkt.
Den Frauen wurden früher absurde Ratschläge erteilt.
Als ich bei der Polizei anfing, sagte man: Lieber fünf Minuten vergewaltigt als ein Leben lang tot. Der erste Slogan im kriminalpolizeilichen Vorbeugungsprogramm von April 1964 lautete: Frauen und Mädchen bei Nacht – gebt Acht! Soll heißen: Geht nicht allein aus, schreibt keine weiblichen Vornamen an die Tür und ins Telefonbuch, kleidet euch züchtig, seid sittsam.
Wie ist es heute?
Der typische Vergewaltiger ist bekanntermaßen ja nicht der Fremde von der Straße, sondern war mit dem Opfer bekannt. Jetzt raten wir: Selbstbewusst auftreten. Wenn es geht, versuchen zu fliehen. Wenn es zu spät ist, sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wehren. In fast vier Fünfteln der Fälle führt der entschlossene Widerstand zum Tatabbruch. Auf alle Fälle Anzeige erstatten.
Mithilfe Ihrer Frau haben Sie in den 70er-Jahren die Taschendiebe aufs Korn genommen.
Ein Mitarbeiter hat mal zu mir gesagt, ich sei das größte Verhüterli des Polizeipräsidenten. Damals gab es in den Verkehrsmitteln schon viele Taschendiebstähle. Angelehnt an die Paech-Brot-Werbung haben wir für einen Aufkleber einen guten Slogan gesucht.
Die Paech-Brot-Werbung funktionierte nach dem Motto „Reim dich, oder ich fress dich“.
Genau. „Ganz furchtbar schimpft der Opapa, die Oma hat kein Paech-Brot da.“ Meine Frau und ich haben den ganzen Abend überlegt. Irgendwann sind wir ins Bett gegangen – ohne dass es Gedränge gab. Meiner Frau fiel der Spruch ein: „Gedränge nur dem Dieb gefällt. Drum Augen auf und Hand aufs Geld.“ Der Aufkleber ist in Zehntausender-Auflage gedruckt worden und hing bis weit in die 90er-Jahre in den Berliner Verkehrsmitteln.
Anfang der 90er, als es viele Taxiraube gab, ließen Sie ein diebstahlsicheres Bargeldbehältnis entwickeln.
Stimmt. In das Behältnis werden große Geldscheine eingeworfen, die nicht als Wechselgeld benötigt werden. Bei einem Angriff werden die Scheine eingefärbt. Knallrot. Es gibt auch Fahrscheinautomaten, die mit so einer Einrichtung ausgestattet sind.
Apropos Technik. Wie stehen Sie zur Videoüberwachung?
Ich bin ein Fan davon. Dem früheren CDU-Innensenator Eckart Werthebach habe ich ein Videoüberwachungskonzept für kriminalitätsgefährdete Orte geschrieben …
Das aber nicht umgesetzt wurde, weil die Krise der Bankgesellschaft dazwischenkam?
Ich habe von dem Konzept nie wieder etwas gehört. Heute würde ich aber sagen, Videoüberwachung lohnt sich nicht mehr, weil wir zu wenig Kriminalitätsbrennpunkte in der Stadt haben.
Warum wird eigentlich so wenig getan, um Kriminalitätsformen wie der milliardenteuren Bankenaffäre vorzubeugen?
Der Bankenskandal interessiert die Leute deshalb so wenig, weil ihnen nicht unmittelbar in die eigene Tasche gegriffen wird. Mangels eigener Betroffenheit sehe ich für diesen Bereich deshalb allenfalls durch interne Revisionsverfahren und Korruptionsbekämpfung Aussicht auf Erfolg. Anders wäre es, wenn die Vorbeugung von einem breiten Bürgerwillen getragen würde. Aber auch das kann sich ändern. Vor zehn Jahren ist kein Polizist freiwillig zur Gewaltprävention an eine Schule gegangen. Inzwischen haben wir dort zigtausend Veranstaltungen durchgeführt.