: Das Neue wird gut
Eine an Höhepunkten arme MaerzMusik: Verheißungsvolles fand sich meist dort, wo man es nicht erwartete, etwa bei einem dem Komponisten Walter Zimmermann gewidmeten Konzert
von BJÖRN GOTTSTEIN
Es ist ein simpler Trick. Lässt man einen Waschmaschinenschlauch langsam kreisen, entsteht ein hohler Klang. Hunderte dieser Schläuche erzeugen ein dumpfes Wehen, das sich noch über die massive Aura einer monströsen Werkshalle hinwegsetzt. Am Samstagabend wurde Benedict Masons „felt/ebb/thus/brink/here/array/telling“ im Kabelwerk Oberspree aufgeführt. Die Orchestermusiker haben ihre Instrumente abgelegt, sich mit besagten Schläuchen gerüstet und sich als Schneise durch den ausladenden Raum aufgestellt. Der Klang verdichtet sich zur raumgreifenden Figur; Musik wird akustische Geometrie. Mason spielt das Szenario in mehreren Konstellationen durch, mit großen Stimmgabeln oder mit gehämmerten Stäben, bei denen die Musik als stehende Welle von elektroakustischer Qualität erstarrt.
Nun könnte man das Stück leicht als bloße Girlande missverstehen. Aber Mason unterwandert die musikalische Praxis an einem kritischen Punkt. Er unterbindet den Wunsch der Musiker nach Ausdruck, indem er sie in eine um ihr Artikulationspotenzial beraubte und zur Exekution verurteilte Menge verwandelt.
Aufgeführt wurde Masons Orchesterstück im Rahmen des Festivals MaerzMusik. Wenn man Mason am Gros der insgesamt dreißig Konzerte misst, wird deutlich, woran es anderen Werken meist fehlte: am Willen, sich über Gepflogenheiten und Erwartungen hinwegzusetzen. Besonders krude Beispiele kommen aus dem Bereich der traditionellen, komponierten Musik. Gescheitert ist etwa Dieter Schnebel mit seiner „Sinfonie X“, einem Werk, das am Sonntag der Höhepunkt des Festivals hätte werden sollen. Das dreistündige Werk für Chor, Solisten und Orchester triefte vor bürgerlicher Selbstherrlichkeit. Abgeschmackte Gedichte von Hölderlin, Goethe und Mörike wurden mit Bibelsprüchen gespickt und musikalisch mit einer Melange aus Beethoven, Mahler und einer bloß selbstreferenziellen Avantgarde untermalt. „Gott ist Liebe; Liebe Gott“ frohlockt der Chor im Epilog: Musik, wie maßgeschneidert für den nächsten Kirchentag.
Wenig Glück hatte die MaerzMusik auch mit ihrem Schwerpunkt „Brasilien“, der fast fahrlässig auf historische Referenzen verzichtete. Zwar ließen sich Elemente einer von native-american, spanischen und afrikanischen Einflüssen gespeisten Tradition aus den einzelnen Ansätzen gut herauslesen, aus Arto Lindsays von Noise zersetztem Samba zum Beispiel, oder aus Silvia Ocougnes perkussivem Umgang mit traditionellen Gitarreninstrumenten. Aber das Gefühl, dem Begriff einer „brasilianischen Musik“ habhaft zu werden, blieb aus. Auf den Spuren der brasilianischen Gegenwart wähnte man sich erst dort, wo Komponisten sich weniger an der Tradition abarbeiteten, als vielmehr aus dem Zeichenvorrat der brasilianischen Alltagskultur schöpften: aus der Telenovela und dem Bossa nova zum Beispiel. Chico Mellos Telebossa „Destino das Oito Schicksal um acht“ spielte das Melodram der Seifenoper bravourös gegen die Kodizes der Avantgarde, vor allem gegen das Wiederholungsverbot, aus. Das emotionale Patt einer zerstrittenen Ehe spitzt sich unter zahllosen Repetitionen, dramaturgischen Sackgassen und Neuanfängen im Laufe des Abends zu. Die Handlung wird dabei von ihrer eigenen Genese überschattet, das Metier der Telenovela zum eigentlichen Sujet der Oper.
Insgesamt musste man aus dieser an Höhepunkten armen MaerzMusik die Erleuchtung verheißenden Momente mühevoll heraussuchen. Und man fand sie meist dort, wo man sie nicht erwartet hatte, zum Beispiel in einem Konzert, das dem Berliner Komponisten Walter Zimmermann gewidmet war. Zimmermann hatte eine Reihe von Solowerken für sprechende und singende Instrumentalisten zu einem Zyklus zusammengestellt. Mit künstlerisch gebrochener Naivität streifen die Musiker durch das meist lineare, sich wie eine ruhige Landschaft entfaltende Material. Das Schlagzeug wird von Instrument zu Instrument geführt, und das Staunen darüber, dass dabei Musik entsteht, ist gewissermaßen mitkomponiert: keine Künstelei, keine Pädagogik, kein Priestertum, sondern Klang, Zusammenhang und Sinn. „Das Neue wird gut“, heißt es in einem seiner Stücke, was nicht nur erklärt, warum wir immer weiterschreiben und -hören, sondern auch warum wir morgens überhaupt aufstehen, uns das Hemd über die Hose streifen und uns zum Kaffee eine Zigarette anzuzünden. Dass das Neue so gut meist gar nicht wird, ist dann schon Geschichte.