: Üben macht den Meister
Der Brasilianer Lincoln schiebt auf Schalke bisweilen Sonderschichten. Gegen die Bayern zahlt sich das prompt durch das Tor des Tages aus. Für die Fans ist das auch schon die Entscheidung
AUF SCHALKE HOLGER PAULER
Ralf Rangnick würde auch in der Politik eine gute Rolle abgeben. Vor allem wenn es darum ginge, Einschnitte in die Arbeitswelt möglichst positiv zu verkaufen: Mehr Arbeit für das gleiche Gehalt zum Beispiel. Im konkreten Fall bezog Rangnick sich auf den Brasilianer Lincoln, der mit einem wunderschönen Freistoß aus knapp 20 Metern Oliver Kahn und die Bayern besiegt hatte. „Es lohnt sich halt, nach dem Training noch einmal 15 bis 20 Minuten draußen zu bleiben und Sonderschichten einzulegen“, sagte Rangnick. Beim FC Schalke 04 kein Problem. Im Gegenteil: Es ist das Erfolgsrezept der laufenden Saison, in der die Schalker urplötzlich vor dem größten Erfolg seit 47 Jahren stehen. Nach dem 1:0-Erfolg über Bayern München winkt die erste Meisterschaft seit 1958.
Dass ausgerechnet diese eine Standardsituation das äußerst enge Spiel der beiden punktgleichen Spitzenteams entschied, war indes keine Überraschung. „Es sind halt die Kleinigkeiten, die ein Spitzenspiel prägen“, sagte Bayern-Trainer Felix Magath nach dem Spiel. Sein Kollege konnte da nur zustimmen. Als es zur Halbzeit noch torlos stand, gab er seinen Mannen folgendes mit auf den Weg: „Solange es 0:0 steht, ist alles in Ordnung. Auch wenn es bis zur 85. Minute so bleibt. Wir werden unsere Chance bekommen.“ Ganz so lange brauchte Rangnick nicht zu warten. Nur bis zur 69. Minute. Martin Demichelis foulte Ebbe Sand kurz vor der Strafraumgrenze, nachdem die Bayern einen eigenen Einwurf fahrlässig hergeschenkt hatten. Lincoln streichelte den Ball, drückte ihn auf den unebenen Boden, nahm anderthalb Schritte Anlauf – und zirkelte ihn haarscharf über die hochspringende Bayern-Mauer, einen halben Meter halbhoch neben den linken Pfosten und trotzdem unhaltbar.
Wie er das nur gemacht habe, wurde Lincoln später gefragt. Mit welcher Technik? Oder ist das ein Geheimnis, welches er nicht preisgeben wolle? „Ich muss einfach trainieren. Immer wieder üben, üben.“ Mehr nicht. Lincoln hat die Philosophie seines Trainers verinnerlicht. Und Rangnick war nach dem Spiel sichtlich stolz auf seinen Lieblingsschüler: „Im Training sind bei Lincoln von zehn Freistößen sieben brandgefährlich und fünf sind drin.“ Alles also nur eine Frage der Zeit. Und dass es im Spiel nicht früher geklappt hat, lag lediglich daran, dass Position und Entfernung vorher nicht stimmten.
Zur ihren nunmehr gestiegenen Meisterschaftschancen wollten sich die Schalker indes nicht äußern. „Ich habe schon vor dem Bayernspiel gesagt, dass die Trainingswoche nach einem Sieg sehr hart wird“, sagte Ralf Rangnick, denn: „Erst wenn wir auch in Mainz gewinnen sollten, ist der heutige Sieg etwas wert.“ Die Fans sind da schon einen Schritt weiter. Trotz des Last-Minute-Traumas von 2001. Noch eine Stunde nach Abpfiff kamen sie freudentrunken in Scharen aus der Arena getaumelt – mit Papp-Meisterschalen in der Hand wurden Triumphgesänge angestimmt. So als könne sie nun nichts mehr aufhalten. Für die Fans war klar: Die Vorentscheidung ist gefallen.
Bayern-Coach Felix Magath blieb trotzdem ruhig: „Mit der Woche bin ich insgesamt gesehen zufrieden. Ich bin ganz gelassen, was die Situation in der Meisterschaft angeht.“ Die Woche war allerdings auch sehr anspruchsvoll. Erst der 1:0-Sieg gegen den amtierenden Meister Werder Bremen, dann das Weiterkommen in der Champions League trotz einer 0:1-Niederlage bei Arsenal London, schließlich die 0:1-Niederlage auf Schalke. Die Ergebnisse spiegeln dabei sehr eindrucksvoll die neue Denkweise des FC Bayern wider: gelassen defensiv.
Bereits unter der Woche war bekannt geworden, dass Innenverteidiger Robert Kovac den Verein wohl Richtung Italien verlassen wird, gestern wurde der bevorstehende Wechsel von Zé Roberto zu Atlético Madrid angekündigt; angedrohte Gehaltseinbußen von vier auf zwei Millionen Euro pro Jahr seien dafür ausschlaggebend. Bayern-Vorstandschef Kalle Rummenigge rechtfertigte dies folgendermaßen: „Wir wollen in München keine Schalker oder Dortmunder Verhältnisse.“ Außerdem habe man zehn Mittelfeldspieler, da könne man einen Zé Roberto schon mal ziehen lassen.
Ein Zustand, der sich auch in der Spielweise ausdrückt. Seit dem Ausfall von Roy Makaay geht dem Bayernspiel die Torgefährlichkeit ab. Trotz regelmäßiger Überlegenheit im Mittelfeld entwickeln sich jedenfalls kaum torgefährliche Szenen. Gegen Bremen und Arsenal reichte dies noch, in Schalke aber fehlte der letzte Kick. „Allerdings“, glaubt Magath, seien die schweren Spiele in der Bundesliga jetzt vorbei. „Ich bin überzeugt, dass wir noch häufig punkten werden.“
Dennoch: Die Bayern sind jetzt auf Ausrutscher der Schalker angewiesen. Was momentan als nicht sehr wahrscheinlich erscheint. Es ist eher anzunehmen, dass die Zusatzschichten noch weiter ausgedehnt werden – ganz ohne finanzielle Zulage versteht sich. Die könnte dann am 21. Mai fällig werden …