Mit dem Volkskongress lässt China seine Komplexe hinter sich : Neuer Mut im Namen von Hu
Der Nationale Volkskongress in Peking hat in diesem Jahr eine Reihe widersprüchlicher Botschaften gesandt. China droht nun Taiwan mit „nicht friedlichen Mitteln“, doch gleichzeitig setzt sich Peking neuerdings für ein Konzept nachhaltiger Entwicklung ein. Der chinesische Regierungschef verkündete gestern, dass sich sein Land auch vor einem Krieg mit den USA nicht fürchte, doch zugleich erläuterte er eine neue Reform der Todesstrafen-Praxis, die nach Jahren exzessiver Anwendung der Höchststrafe in Zukunft mehr „Besonnenheit und Gerechtigkeit“ walten lassen will. Einerseits scheint Peking also durchaus aufnahmebereit für westliche Politikkonzepte, andererseits bietet es dem Westen in der Taiwan-Frage bereitwillig die Stirn. Wie passt das alles zusammen?
Nach Jahren im Schatten von Deng Xiaoping und seinem uncharismatischen Nachfolger Jiang Zemin fühlen sich Parteichef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao heute stark genug, die eigene Politik sichtbar werden zu lassen. Dabei misst sich ihr Erfolg nicht mehr am längst als selbstverständlich angenommenen Wirtschaftswachstum, sondern an ihrer Fähigkeit, die Folgen des Wachstums sozial verträglich zu gestalten. Schon das öffentlich einzuräumen, bedeutet für Hu und Wen eine Abkehr von Deng und Jiang, denen der Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft Aufgabe genug war. Nun versucht die Führung eigene Maßstäbe zu entwickeln – wie etwa die Berechnung des Wachstums unter Berücksichtigung der Umweltschäden. Experten meinen, damit gingen in China jährlich bis zu 4 Prozent Wachstum verloren – insofern ein mutiges Anliegen Pekings.
Hu und Wen müssen ihre neue Politik derzeit nicht aus der Not gebären. Das hilft ihnen zu neuen Einsichten bei Aids oder der Anwendung der Todesstrafe. Das verführt sie sogar zu einem großen Wurf: Mit den neuen Zielen einer „harmonischen Gesellschaft“ rücken sie in die Wertediskussion auf, an die sich schon Deng nicht wagte. Erstens weil Mao sie ad absurdum geführt hatte. Und zweitens weil der Westen hier allzu überlegen erschien. Damit aber erklärt sich auch das Taiwan-Gerassel. Die Pekinger Führung ist politisch selbstsicherer geworden. GEORG BLUME