Fluch und Segen der Geschichtsschreibung

Historiker mögen Zeitzeugen selten. Denn so farbig und erhellend deren Berichte meist sind – die Erinnerung trügt eben manchmal

„Zeitzeugen sind die Hölle“, zischte vor ein paar Jahren, ganz unironisch, ein israelischer Historiker am Rande einer Tagung über das jüdische Sportleben in Deutschland bis 1945. Der Anlass: Ein Zeitzeuge hatte gerade die versammelte Historikerschar zusammengestaucht: Ihre Forschungsergebnisse seien in dem und dem und dem Punkt falsch. Er habe es ja erlebt! Die negative Meinung des Historikers über Zeitzeugen ist in ihren Kreisen keinesfalls die Ausnahme, auch wenn man sie meist nur munkelt.

Auf der anderen Seite gibt es Zeitzeugen, die sich gern abfällig äußern über das Archivwissen der Historiker: „Zeitzeugen sind die besten Geschichtsschreiber“, verkündet etwa Sally Perel, der, obwohl Jude, als Hitlerjunge den Holocaust überlebte – seine Autobiografie war ein Bestseller, der auch erfolgreich verfilmt wurde. Manches wissen Zeitzeugen tatsächlich besser als die Historiker, denn auch Dokumente können lügen. Die Frage ist nur: Was wissen sie besser?

Zeitzeugen sind zugleich Fluch und Segen der Geschichtsschreibung. In einer Porträtserie wird die taz bis Anfang Mai das Kriegsende beschreiben – so, wie es Berliner erlebt haben, so, wie es in Berlin erlebt wurde. Nur Zeitzeugen werden berichten, um sie noch einmal zu Wort kommen zu lassen – vielleicht zum letzten Mal 60 Jahre, also zwei Generationen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei erzählen die Zeitzeugen – natürlich – immer nur einen Teil der großen Geschichte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Man kann diesen Ansatz kritisieren, da Berichte von Zeitzeugen nicht selten Schwächen haben: Ihre Erinnerung kann Zeitzeugen trügen. Ihre Berichte können im Laufe der Jahrzehnte durch häufiges Wiedergeben zu Erzählungen voller Fehler, Auslassungen und Verdrängungen dramatisiert und glatt geschliffen worden sein. Manchmal haben Zeitzeugen etwas Rechthaberisches an sich: Sie lassen sich – selbstredend mit bestem Gewissen! – von schlagenden Gegenbeweisen der Historiker keineswegs eines Besseren belehren. Und sie erinnern sich ab und zu nur an persönliche Erlebnisse und Interpretationen des damaligen Geschehen, die ein falsches Bild vom Ganzen abgeben. Typisch dafür sind etwa die Topoi „Hitler hat doch die Autobahnen gebaut“ oder „Wir haben vom Judenmord nichts gewusst“.

Andererseits haben die Berichte von Zeitzeugen unschlagbar starke Seiten: Sie erinnern sich an farbige, erhellende Details, die in den Werken von Historikern ob ihrer Fülle nicht erfasst werden können und so untergehen. Der persönliche Bericht berührt die Zuhörer viel eher, als es dicke historische Werke vermögen: Wer jeweils erlebt hat, welche tiefe Wirkung etwa frühere KZ-Insassen bei ihren Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern fast immer hinterlassen, wird dem nicht widersprechen. Vielen Zeitzeugen tut die Erinnerung an früheres Unglück seelisch weh. Manche ihrer Berichte interessierten jahrzehntelang niemanden – auch das schmerzt. Dennoch erinnern die Zeitzeugen an vergangenes Leid, damit dies Wissen nicht verloren geht. Als Überlebende empfinden dies viele als Pflicht gegenüber den Toten. Hinzu kommt, dass Zeitzeugen manchmal schlicht die besten Beweise haben, denn sie haben es erlebt. Die Augenzeugenberichte von Mitgliedern der „Sonderkommandos“ in Auschwitz beispielsweise gehören zu den schlagendsten und leider nötigen Argumenten gegen die Holocaust-Leugner (auch wenn diese sie nicht hören wollen).

Die Ohren und Augen also aufgesperrt, wenn Zeitzeugen erzählen. Wir Nachgeborenen haben das Privileg, sie noch erleben zu können, auf dass wir ihre Berichte – wenn auch nur aus zweiter Hand – der kommenden Generation weitertragen können. Oder, wie es der Spanienkämpfer und Auschwitz-Häftling Kurt Julius Goldstein sagt: „Wir sind die Letzten – fragt uns!“ Seine Rede übrigens war es, die bei der Gedenkfeier zum 27. Januar dieses Jahres, 60 Jahre nach Befreiung des KZ Auschwitz, im Deutschen Theater den meisten Eindruck hinterließ. Kanzler Schröder hatte mit seinem Beitrag keine Chance. PHILIPP GESSLER