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Archiv-Artikel

Ficken und Schreiben nach Zahlen

Das durchschnittliche Paarungsverhalten von Menschen und anderen Säugetieren: „Dr. Sex“, T. C. Boyles Roman über Alfred Charles Kinsey

Boyle verwandelt häufig historische Persönlichkeiten in literarische Figuren

Die sexuelle Revolution beginnt im Herbst 1939. Ein weitgehend unbekannter Zoologe, der sich bisher ausschließlich dem Studium der Gallwespen gewidmet hat, hält an der Universität von Indiana eine Vorlesung zum Thema „Ehe und Familie“, in der Worte wie „Penis“, „Brustwarze“ und „Vagina“ zum ersten Mal vor einem gemischten Auditorium ausgesprochen werden. Zuletzt kommen sogar Dias zum Einsatz: ein erigierter Phallus, gefolgt von der Aufnahme einer feucht glänzenden Scheide. „Wie Sie sehen“, erläutert der Wissenschaftler seinem schockierten Publikum, „ist die Klitoris stimuliert, sodass die für die Frau zum Vollzug des Aktes erforderliche erotische Reizung gegeben ist.“

Die Szene in dem schlecht belüfteten Hörsaal wäre ein fantasievolles Stück Literatur, hätte sie nicht tatsächlich stattgefunden: Bei dem amerikanischen Zoologen, der in T. Coraghessan Boyles neuem Roman „Dr. Sex“ so begeistert über das Vorspiel referiert, handelt es sich nämlich um Alfred Charles Kinsey, den Verfasser der legendären Studien „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ und „Das sexuelle Verhalten der Frau“. Eigentlich ist das ein Stoff für eine Biografie, aber T. C. Boyle hat bereits häufiger historische Persönlichkeiten in seinen Romanen auftauchen lassen und in literarische Figuren verwandelt: Mungo Park, den Afrikareisenden aus „Wassermusik“, oder John Harvey Kolleg, den fanatischen Vegetarier und Cornflakes-Erfinder aus „Willkommen in Wellville“.

Jetzt geht es also um den 1956 verstorbenen Kinsey, der während des Zweiten Weltkriegs die Auffassung vertrat, „dass Sexforschung für das Wohlergehen des Landes weit bedeutsamer ist als der Sieg in Europa oder im Pazifik“. Bis heute ist Kinsey in den Vereinigten Staaten eine höchst umstrittene Persönlichkeit, und insbesondere in den letzten Jahren gab es eine scharfe Diskussion über die Untersuchungsmethoden des Sexualwissenschaftlers, der unter anderem auch Interviews mit Pädophilen, Vergewaltigern und anderen Straftätern geführt hatte. Bill Condon hat sich in seinem Film „Kinsey“ gerade erst mit diesen moralischen Fragen beschäftigt – T. C. Boyle dagegen interessiert sich weniger für diese Political-Correctness-Diskussion als für die traditionell literarische Frage nach dem Zusammenhang von Sexualität und Liebe.

Kinsey selbst waren solche Überlegungen, die über die empirisch zu erfassenden Daten zur Frequenz von Masturbation und Geschlechtsverkehr hinausgehen, offenbar vollkommen gleichgültig, und darum schleust Boyle nun den (zunächst) verklemmten und leicht romantisch veranlagten Literaturstudenten John Milk in das sagenumwobene „Institut für Sexualforschung“ ein. In einfachen und klaren Sätzen berichtet dieser fiktive Erzähler zunächst von den fantasievollen Untersuchungsmethoden der kleinen Forschungsgruppe.

Milk führt Interviews mit Gefängnisinsassen, verbirgt sich im Auftrag seines Chefs in einem Wandschrank, um einer Prostituierten bei der Arbeit zusehen, und steht selbstverständlich zur Verfügung, als Kinsey vor einer Filmkamera zahlreiche Männer masturbieren lässt, um dem Mythos des „Abspritzens“ auf die Spur zu kommen. „73 Prozent tröpfelten“, fasst John Milk das Ergebnis lapidar zusammen: „Unter anderem auch ich.“

Seine Frau Iris bezweifelt von Anfang an, dass all das, was Mann und Frau im Bett oder auf dem Rücksitz eines Autos miteinander treiben, nur das komplexe Paarungsverhalten von „Säugetieren“ ist. Standhaft verteidigt sie ihr Konzept der zaghaft enthemmten bürgerlichen Liebe gegen die biologistischen Überzeugungen, die ihr Mann von der Arbeit mit nach Hause bringt. Die daraus resultierende Beziehungskrise zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch.

Spätestens als Kinsey dann bei einem geselligen Beisammensein im Dienste der Wissenschaft eine kleine Orgie in Gang bringen will, spitzt sich der Streit zwischen Iris und ihrem Mann zu. Hier schreibt T. C. Boyle nun tatsächlich „Fiction“, aber ausgerechnet diese Passagen sind in ihrer harmlosen Beziehungsprosa die wohl langweiligsten in dem ganzen Buch. Selbst wenn die katholisch erzogene Iris beim Sex gerne laut „Votze“ und „ficken“ ruft: Der Konflikt zwischen den nicht erst in den Sechzigerjahren überkommenen Familienwerten und einer neuen Sexualmoral ist in John Updikes „Ehepaare“ oder Rick Moodys „Der Eissturm“ genauer und eindringlicher beschrieben worden.

Bei Boyle ist der andauernde Ehestreit einfach nur ein literarischer Trick, um eine flott geschriebene Biografie wie einen echten Roman wirken zu lassen. Wenn man es gemäß der von Alfed Charles Kinsey so geschätzten quantitativen Methode formulieren möchte: Auf einer Skala von 0 für „schlechtes Buch“ bis 6 für „richtig gutes Buch“ bekäme „Dr. Sex“ nicht mehr als eine 2. KOLJA MENSING

T. Coraghessan Boyle: „Dr. Sex“.Aus dem Amerikanischen von Dirkvan Gunsteren. Hanser Verlag,München 2005, 480 Seiten, 24,90 €