Kicken trotz mentaler Grenzen

Das Nationalteam der Menschen mit geistiger Behinderung trainiert in Köln. Die Spieler überschätzen dabei oft ihre Möglichkeiten. Langfristiges Ziel ist die Fußball-WM 2006

Das tägliche Training ähnelt eher dem im Kinder- und Nachwuchsbereich

AUS KÖLN VERENA WEIßE

Zügig geht Andreas Timm in Richtung Trainingsplatz. In der einen Hand hält er ein Netz mit Bällen, in der anderen seine Fußballschuhe. „Wenn der Trainer will, werde ich natürlich Kapitän der Mannschaft“, sagt der Blondschopf im Vorbeigehen. Er legt das Netz an den Spielfeldrand und wartet auf seine Mitspieler. Dabei geht er unruhig hin und her. Er kann es kaum erwarten, endlich auf den Platz zu kommen, zur zweiten Trainingseinheit des Tages.

Andreas Timm ist ein Star. Seit zehn Jahren spielt der 30-Jährige in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft der Menschen mit geistiger Behinderung. Ein Star, den niemand kennt. Anders als seine Stürmer-Kollegen aus der A-Nationalmannschaft des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) wie Klose oder Kuranyi, die von Medien, Fans und Verband genau beobachtet werden. Kaum jemand weiß, dass es im kommenden Jahr eine zweite Weltmeisterschaft in Deutschland gibt – vom 26. August bis zum 17. September 2006 kicken die Fußballer mit geistiger Behinderung in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bayern und Sachsen-Anhalt um den Titel. 48 WM-Spiele werden an 43 Orten ausgetragen, 16 Mannschaften aus 16 Nationen nehmen teil.

Die Vorbereitungen der deutschen Mannschaft haben begonnen. Nationaltrainer Willi Breuer, ehemaliger Jugendtrainer des 1. FC Köln, ist auf der Suche nach einer Mannschaft. Acht Stammspieler sind gesetzt, andere sichten er und Teammanager Wolfgang Warnke während des Trainingslagers in der Sportschule Wedau in Duisburg. Welche Kriterien muss ein Spieler erfüllen, um in die Nationalmannschaft aufgenommen zu werden? Einen Intelligenz-Quotienten von 75 oder weniger und Einschränkungen der Anpassungsfähigkeit im Sozialverhalten oder in praktischen Fähigkeiten, heißt es in den Bestimmungen des Weltverbandes. „Eine geistige Behinderung ist nicht so eindeutig zu erkennen wie eine körperliche“, sagt der Diplomsportlehrer. Vor der Einstufung bescheinigt ein Psychologe die Behinderung, dazu werden Tests gemacht. Was ist der größte Unterschied zur A- Nationalmannschaft? „Die Spieler haben ein geringeres Spielverständnis und geringere technische Möglichkeiten, konditionelle Probleme und können taktische Spielzüge nur eingeschränkt umsetzen“, erklärt Breuer, der die Mannschaft seit ihrer Gründung 1992 betreut. Erfolge: Siebter Platz bei der WM 1994 in den Niederlanden, Rang drei 1998 in England und Platz vier bei der WM in Japan.

Breuer arbeitet mit seinen Jungs hart im Training: Spielformen in Kleingruppen, taktische Übungen, Torschüsse, Arbeit in Zweiergruppen. Breuer: „Die Mannschaft spielt auf Kreisliga A-Niveau. Das Training ähnelt dem im Kinder- und Nachwuchsbereich.“ Die Spieler besuchen teilweise noch die Sonderschule oder arbeiten in Einrichtungen oder Werkstätten für behinderte Menschen. In der Nationalmannschaft bekommen die Jungs ein Gefühl, ein Gefühl für ihr Verhalten. „Ahmet Demir hat außerhalb des Platzes ein unglaublich schlechtes Sozialverhalten, aber auf die Mannschaft lässt er nichts kommen. Er lernt hier, was es heißt, einen Fehler gemacht zu haben und für diesen auch gerade zu stehen“, sagt der Team-Chef. Eines vereint alle Spieler: Das Glücksgefühl, wenn sie auf dem Platz stehen und die Nationalhymne hören. „Bei so viel Emotion bekomme ich eine Gänsehaut“, so Breuer. Viel Arbeit wartet auf den Bundestrainer bis zur WM. Bisher gibt es noch keinen offiziellen Sponsor und es ist nicht klar, „inwieweit wir die Spieler für die WM freigestellt bekommen“. Die Nationalmannschaft des aktuellen Weltmeisters England arbeitet unter professionelleren Bedingungen. Das Team ist in den englischen Fußballverband integriert, es gibt ein offizielles WM-Programmheft. In Deutschland ist das anders: Da ist der Deutsche Behindertensportverband (DBS) hauptsächlich für die Austragung verantwortlich, der DFB spielt eine Nebenrolle.

Andreas Timm hat seine Fußballschuhe geschnürt und läuft sich ohne Ball warm. Breuer verteilt runde Markierungen auf dem Platz und grenzt ein kleines Spielfeld ab. Die Spieler sollen dribbeln üben. Timm ist stolz, für Deutschland zu spielen. Im Training hängt sich der Stürmer rein. Wegen seiner kompakten Statur und seiner Kopfballstärke wird er oft mit Horst Hrubesch verglichen. „Mein größtes Ziel ist es bei der Weltmeisterschaft ins Finale zu kommen“, sagt der gebürtige Hamburger, der in Essen- Frillendorf lebt und in der Einrichtung Heimstadt Engelbert als Gärtner arbeitet. Besonders stolz ist der 30-Jährige auf seinen „linken Hammer“ und seine Kopfball-, Kampf- uns Zweikampfstärke. Breuer über Timm: „Manchmal ist er zu übereifrig und überschätzt sich. Er hat eine gute Einstellung und bringt sich super in die Mannschaft ein.“

Breuer geht aufgeregt am Spielfeldrand hin und her, fuchtelt dabei mit den Armen umher und schreit: „Ihr habt keine Dynamik und bewegt euch viel zu wenig. Ich muss die Rhythmusänderung erkennen.“ Andreas Timm konzentriert sich auf die Arbeit am Ball. Manchmal gelingt es ihm und seinen Teamkollegen nicht, die Anweisungen des Trainers umzusetzen. Ihre Bewegungen wirken unbeholfen. Andreas Timm fängt immer wieder von vorne an. Er ist ein Kämpfer mit Leidenschaft: „Mein größter Traum ist der Gewinn der Weltmeisterschaft“, sagt der 30-Jährige, und die Augen des unbekannten Stars funkeln.