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Archiv-Artikel

Eine Sache der Dörfer

Sie heißen „He löpt noch“, „Goode Trüll“ oder „Lot hum susen“. Hinter den für Nicht-Friesen lustigen Vereinsnamen verbirgt sich ein knallharter Leistungssport: Boßeln, das „Heimatspill“ der Friesen

Aus Pfalzdorf Thomas Schumacher

„Wo geiht?“ – „Hau, d’r Kloot geiht in Keller!“ Die Käkler und Mäkler schimpfen. Sonja Kotte aus Collrunge schreit: „Scheiße. Das war brutal nix. Da lag ein schlechter Finger aufm Holz.“

Die Szene ist erklärungsbedürftig? Nur im jenem Rest der Welt, der außerhalb Ostfrieslands, Oldenburgs und Nordfrieslands liegt. Versuchen wir es: Wir befinden uns im Wettkampf der Champions League der Boßel-Landesverbände Ostfrieslands und Oldenburgs. Hier boßeln nur die Besten der Besten. Wer hier mit wirft, ist der Unsterblichkeit ein Stück näher gekommen – zumindest in Friesland. Frauen wie Antje Schöttler aus Westdorf, die über zehn Jahre lang das Frauenboßeln in Europa dominierte, sind in die Boßelgeschichtsbücher eingegangen.

„Lücht up und fleu herut“ ist der Schlachtruf der friesischen BoßlerInnen und bedeutet soviel wie: „Nimm auf und flieg weg“. „Käkler und Mäkler“ sind notwendige BegleiterInnen eines Wettkampfes. Sie unterstützen ihre Lieblinge, diskutieren deren Würfe, feuern sie an und machen die jeweiligen GegnerInnen nieder. „Kloot“ nennt man die Boßelkugel. Sie ist aus Kunststoff oder Gummi, wird aber stets „Holz“ genannt, weil sie früher aus Holz war.

Und Sonja Kotte freut sich später auch wieder. Die Werferin gewann die letzte Champions-Runde mit 1.643 Metern in zehn Würfen über eine kurvenreiche Kreisstraße von Kleinoldendorf auf Schwerinsdorf. Wie knapp die Wettkämpfe der Cracks sein können, zeigt das Tagesergebnis bei den Männern. Hier kam der Sieger auf 2.108 Meter mit nur einem Meter Vorsprung auf den Verfolger. Übrigens, wer als Käkler und Mäkler bei einem solchen Wettbewerb auf Kugelhöhe bleiben will, kommt ganz schön ins Schwitzen.

Verderbliches Kugelspiel

Klootschießen, so die traditionelle Bezeichnung für das differenzierte Kugelspiel, ist eigentlich ein einkugeliger Zwitter aus zwei verschiedenen Sportarten. Das traditionelle, ältere Klootschießen soll militärischen Ursprungs sein. Experten erinnern an den biblischen Steinschleuderwurf Davids gegen Goliath. Entsprechend bewaffnet waren friesische Kämpfer in der Vorzeit. Ihre getrockneten Kleigeschosse waren gefürchtet.

Wie auch immer, Klootschießen ist älter als das moderne Boßeln. Man praktiziert es als Stand- und Feldkampf. Dabei wird mit kurzem Anlauf, nach Absprung von einer Rampe, eine kleine Kugel geschleudert. Beim Standkampf ist Sieger, wer am Weitesten wirft. Im Feldkampf schleudern zwei Mannschaften gegeneinander. Gewonnen hat, wer nach allen Würfen die weiteste Strecke zurückgelegt hat. Bei Feldkämpfen mussten Bastmatten für den Anlauf, die Absprungrampe und Mobilöfen mitgeschleppt werden. Denn Klootschießen ist reine Winteraktivität. Man brauchte festen Boden, um das Gerät zu schleppen und um den idealen „Trüll“ (Auslauf der Kugel) zu bekommen. Der Trüll verlängerte den eigentlichen Wurf. Mancher Kämpfer fing sich im Wettkampf eine Lungenentzündung ein. Die Sportbekleidung war Unterwäsche. Es soll Tote gegeben haben.

Einige Spieler und Käkler erlebten das Ende des Wettkampfes als Alkoholleichen. Der Alkohol tat ein Übriges um die unsportliche Kampfeslust anzuregen. Vor allen Dingen nach dramatischen Dorfkämpfen und natürlich während der auch heute noch leidenschaftlichen Vergleichskämpfe zwischen Ostfriesland und Oldenburg kam es zu blutigen Nachspielbetrachtungen. Schon 1789 verbat die „Hochfürstl. Regierung“ die „verderbliche Klootschießerei“.

Zwar ist das Klootschießen im Vergleich zum Straßenboßeln nicht mehr populär, aber bei Europameisterschaften ist es auch heute ein Spektakel mit mehreren Tausend Zuschauern. Und es hat seine ewigen Helden. Etwa den Ostfriesen Gerd Gerdes. 1935 schleuderte er den Kloot als erster Mensch über die 100 Metermarke. Erst 1985 brach der „Bär von Ruttel“, der Oldenburger Hans-Georg Bolken, mit 105,20 Meter diesen Rekord. Aktueller „Weltrekord“: 106,20 Meter von Stefan Albarus aus Ostfriesland.

Als Boßeln laufen lernte

Hini Dirks (73) spricht Klartext: „Wenn fiev Minsken werfen und fiev tusend brüllen, nee, da bin ich nich für.“ Das traditionelle Klootschießen liegt ihm nicht. „Es gibt nur wenige, die das wirklich können und man weiß vorher, wie weit sie alles in allem werfen.“ Seine Sache ist das Straßenboßeln, das kann jeder. Ein Grund dafür, warum es sich zum Breitensport entwickelte, sieht man vom historischen Verdienst des Hini Dirks einmal ab. Ein Könner als Sportler war er im Gegensatz zu seiner Frau Adele nie. Die ist längst als vierfache friesische Meisterin in den Herzen der Boßelgemeinde verewigt. Aber Hini war nach dem Krieg in fast allen Funktionen des Landes- und Dachverbandes tätig. Man nennt ihn Boßelpapst. Er ist einziger Ehrenboßelwart.

„Wenn früher zwei Dörfer feiern wollten, schnappten die Leute sich eine Kugel und warfen über Wege und Pfade. Es gab keine verbindlichen Regeln. Wer Sieger war, wurde nicht selten im Wirtshaus ausgeboxt“, erinnert sich der Mann aus Uttel. Nicht nur das Regelchaos musste nach dem Krieg bereinigt werden. Es galt auch das nationalistische Geschmäckle zu neutralisieren. Immerhin präsentierte sich 1938 das Boßelwinterfest der Friesen in Nordenham als üble Naziveranstaltung. Noch heute heißt es in der Boßelhymne: „Brukt us Vaderland Soldaten, kann’t sick ganz up us verlaten. Haut den Feend fix up den Snut: Hurra! Lüch up un fleu herut!“

„Wir wollten einen Neuanfang. Wir wollten einen modernen Sport, der auch die Jugend begeisterte. Wir mussten gegen das Angebot anderer Sportvereine antreten“, gab Dirks sein Ziel vor. Dazu gehörten ein verbindliches Regelwerk und ein organisierter Spielbetrieb. Manch alter Verein wurde in den geordneten Betrieb „gepresst“, indem man ihm die organisierten Vereine als Spielpartner entzog. Dieser verlässliche Betrieb entschärfte auch das Boßeln als Verkehrshindernis des ständigen wachsenden Autoverkehrs.

Lat’m rullen

Bis heute wird weiter am Regelwerk gebastelt. Aktueller Stand: Es gibt Jugend-, Frauen- (offiziell seit 1972) und Männerligen (siehe Kasten). Bei Vereinspunktkämpfen treten je zwei Mannschaften (etwa je 16 Teilnehmer) in je vier Gruppen gegeneinander an. Je zwei Paarungen werfen mit Kunststoff-, zwei mit Gummikugeln. Geworfen wird auf einer vorher festgelegten Strecke von knapp acht bis zehn Kilometern. Gewonnen hat, wer diese Strecke mit den wenigsten Würfen durchmisst. Kann ein Wurf der Mannschaft A von zwei Würfen der Mannschaft B nicht eingeholt werden, bekommt Mannschaft A einen „Schoet“, einen Punkt. Am Ende werden die Einzelergebnisse aller Gruppen einer Mannschaft zusammengezählt und verrechnet.

Im Einzelkampf der Champions-League zählen in jeder Runde die geworfenen Weiten nach zehn Würfen eines Teilnehmers. Die besten SpielerInnen aus Oldenburg und Ostfriesland werfen in wechselnden Paarungen gegeneinander, Sieg und Niederlage werden mit Punkten bewertet.

Trotz fester Regeln entdecken die Vereine immer wieder Lücken. Oldenburg zum Beispiel warf Jahrelang mit einer Gummikugel, deren Schwerpunkt durch Bleieingüsse verändert war. Ungeübten trudelte jeder noch so gut angesetzte Wurf von der Straße. Und jeder Verein sucht sich als Heimstrecke natürlich das ideale Feld für seine WerferInnen. Kräftige Spieler lieben gerade Straßen, technisch versierte dagegen kurvenreiche. Gemeine Vereine bieten aus Boshaftigkeit auch versetzte Wege an.

Man wirft „Liek ut’Hand“ (geradeaus), „över d’lütje Finger“ oder „över d’Dumm“, je nachdem, welchen Drall die Kugel haben soll. Körperkraft allein reicht nicht. Wichtig für einen guten Wurf ist Schwung, der richtige Drall und Ausnutzung der Straßenverhältnisse. Ein guter Wurf in eine Spurrille gesetzt, tendiert nach unendlich. „Heel lecker“, ist so ein Schuss. Nutzt man geschickt die Neigung der Straße aus, wirft ein Profi locker durch eine oder gleich zwei Kurven. Sensibel in den Bordstein gelenkt, flitzt die Kugel ab wie im Flipper.

Irgendwann landen aber alle Kugeln im Schlot, im Straßengraben. Dann müssen sie mit dem Krabber oder Söker, einer speziellen Schaufel, aus dem Wasser gefischt werden. An der Stelle, an der die Kugel die Straße verlässt, beginnt der nächste Wurf.

Gott boßelt in Pfalzdorf

Boßeln ist Sache der Dörfer. Oft sind Boßelverein und Freiwillige Feuerwehr einzige Relikte des sozialen Dorflebens. Osterfeuer, Weihnachtsfeier, Kohlessen – Boßelvereine organisieren auch für Nichtmitglieder so etwas wie Dorfkultur. Platt ist Amtssprache. Der ostfriesische Landesverband schickt traditionell einen Vertreter in das Kollegium der Ostfriesischen Landschaft, der wichtigsten „Kulturbehörde“ Ostfrieslands.

Aber was um Himmels Willen geschieht in Pfalzdorf? Ist das überhaupt ein Dorf? Parallel zur Bundesstraße zwischen Aurich und Wittmund schlängelt sich die Landstraße durch die ostfriesische Meede. Links und rechts stehen verloren einige Häuser und Bauernhöfe. An einer Wegbiegung liegt der „Pfalzdorfer Krug“. Mehr ist nicht. Trotzdem schaut die (Boßel-)Welt auf Pfalzdorf. Denn der ansässige Boßelverein „Gute Hoffnung“ räumt seit Jahren die Landesmeistertitel ab. Insgesamt 18 Meistertitel der ersten Herrenmannschaft schlagen zu Buche. Die Riege wird angeführt von Frido Walter, aktueller Boßelwart ganz Ostfrieslands und selbst schon eine Legende. Er schaffte es als erster und einziger deutscher Werfer, die Dominanz der Iren im Straßenboßeln zu brechen. 1996 wurde er Europameister im niederländischen Geesteren. Und das ausgerechnet mit einem Wurfgerät der Iren, einer kleinen Eisenkugel: „Mit läuft heute noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich an den Wettkampf denke“, erinnert sich der Pfalzburger („Ich wohne in Pfalzburg, rechte Seite, dritter Wurf“).

Andere Dörfer locken gute Werfer schon mal mit Jobs. In Pfalzdorf werden sie geboren. Das Dorf hat regelrechte Dynastien hervorgebracht. Hier wird die Leidenschaft für den Sport vererbt, ebenso wie das Spielgerät. Kugeln mit bewegter Geschichte werden mit ins Grab genommen. „Wir wollen endlich Pfalzdorf schlagen“, nahm sich Friedhelm Veith, Spielführer von „Frei weg“ Blomberg für das Finalspiel am vergangenen Sonntag vor. Blomberg konnte als einzige Mannschaft die Pfalzdorfer in letzter Zeit überhaupt schlagen. Die werden bewundernd und resignierend FC Bayern München genannt. Nun denn, es reichte wieder nicht für Blomberg. Pfalzburg wurde Meister.

Zur Feier reisten Vertreter aus ganz Ostfriesland an. Jeder Sitzplatz im Saal des Pfalzburger Kruges war sorgsam mit einem Schnapsglas aufgerüstet. „Da tanzt gleich der Bär“, freute sich der Pfalzburger Spielführer Frido Walter. Und das erinnerte dann doch an alte Boßelzeiten.