buchmessern (3)
: Ohne Schiller gibt es dieses Jahr keine Literatur, zumindest nicht in Leipzig

Zur Eröffnung der Buchmesse bekam die Kroatin Slavenka Drakulic den Europäischen Preis für Verständigung

Vor Schiller gibt es in diesem Jahr kein Entkommen. Auch nicht in Leipzig auf der Buchmesse, wo man vier Tage lang „dem Denkmal auf der Spur ist“ (Leipziger Volkszeitung) und Schiller liest, „unplugged“ auf der Bühne zeigt oder sich die wichtigsten Aspekte in Schillers Leben von Biografen wie Sigrid Damm oder Rüdiger Safranski erörtern lässt. Noch wichtiger für die Stadt Leipzig aber ist, dass sie höchstselbst eine Rolle in Schillers Leben gespielt hat; eine kleine zwar, aber groß genug, dass auch Leipzig ein „Schillerhaus“ stolz sein eigen nennen kann. Dieses bot Schiller im Sommer 1785 für vier Monate Unterschlupf und gilt als Entstehungsort für seine „Ode an die Freude“, deren letztgültige Version Schiller später in Löschwitz bei Dresden verfasste.

Kein Wunder, dass Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee bei der Eröffnung der Buchmesse am Mittwochabend im Gewandhaus die Gelegenheit nutzte, auf Schillers Leipzig-Episode hinzuweisen, und sich in Frotzeleien mit Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt erging, ob Leipzig oder Dresden wohl mehr Anteil an der „Ode an die Freude“ zukomme. Dann aber hatte es sich ausgeschillert, die Zeit der Eröffnungsredenrituale brach an: Der Börsenvereinsvorsteher Dieter Schormann sagte, was er immer sagt, nämlich wie wichtig das Kulturgut Buch für eine Kulturnation wie Deutschland sei, und Milbradt faselte vom „Wissenschaftsstandort“ Sachsen, der ohne Bücher undenkbar sei.

Nach dieser Rede erforderte es große Anstrengungen, die nötige Konzentration für den Höhepunkt dieser Eröffnung aufzubringen: die Verleihung des Europäischen Preises für Verständigung an Slavenka Drakulic. Hans Koschnick, ehemals EU-Administrator in Bosnien, hielt eine kluge Laudatio auf die kroatische Autorin und ehrte sie nicht nur als Wahrheitsforscherin, sondern wies im Hinblick auf die Aufarbeitung der Verbrechen der Jugoslawienkriege auf die lange Zeit hin, die es in Deutschland gebraucht habe, sich der eigenen Schuld zu besinnen.

Drakulic wiederum arbeitete in ihrer Dankesrede ihre komplizierte Beziehung zu Deutschland auf. Sie zog eine Linie von Karl May, den sie wie so viele in ihrer Jugend unter der Bettdecke las, zu Karl Jaspers, dessen Buch „Die Schuldfrage“ sie dazu brachte, über den Prozess gegen die jugoslawischen Kriegsverbrecher in Den Haag zu schreiben, unterbrochen aber von Zeiten, in denen die Deutschen Feind und Besatzungsmacht waren und auch später als Touristen in Jugoslawien nicht unbedingt zu Freunden wurden: Sie benahmen sich, so Drakulic, nicht wie ein Volk, das im Krieg geschlagen wurde, sondern im Gegenteil: Sie eroberten Europa mit der D-Mark. Inzwischen aber, und mit Hilfe von Jaspers, so schloss sie, sei Deutschland für sie kein Land mehr voller Wunder und Monster, sondern eines mit ganz normalen Menschen. Dass Drakulic bei ihrer Beschäftigung mit Deutschland Schiller anscheinend nie unterkam, das sei hier nur noch am Rande und voller Dank erwähnt.

GERRIT BARTELS