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Archiv-Artikel

Ein Teilorgan fällt aus

Auch in Kiel ist ein Abgeordneter nur seinem Gewissen unterworfen, heißt es in der Verfassung. Aber juristisch ist Gewissen nicht gleich Gewissen. Und manchen fehlt es ganz

von Benno Schirrmeister

Ein Abgeordneter ist kein Mensch. Natürlich sind alle Abgeordneten im Privatleben Menschen, auch die im Kieler Landtag das Volk vertreten, das ist die selbstverständliche Voraussetzung, um als Wahlvorschlag zugelassen zu werden.

Gefährliche Disfunktion

Aber da ist noch etwas: Ein Abgeordneter ist ein Teilorgan. „Er ist ein Teil des Staatsorgans Parlament“, sagt Erich Röper, Jurist am Zentrum für Europäische Rechtspolitik und bis 1997 Fraktionsgeschäftsführer der Bremer CDU, „und hat auch selbst Organstellung hinsichtlich seiner Rechte.“ Entsprechend nennt Schleswig-Holsteins Landesverfassung den Landtag das „oberste Organ der politischen Willensbildung“. Eine seiner Funktionen: Er „wählt die Ministerpräsidentin oder den Ministerpräsidenten.“ Ein Teilorgan ist am Donnerstag ausgefallen: Ein Abgeordneter hat verhindert, dass das Land einen neuen Ministerpräsidenten oder eine alte Ministerpräsidentin bekommt. Es sei „fraglich“, so Röper, „ob der oder die so chaotisieren darf.“

Das zweite Gewissen

Wieso? Abgeordnete sind doch nur ihrem Gewissen unterworfen? Das steht doch im Grundgesetz, und allen Länder-Verfassungen. „Stimmt“, sagt Röper. „Aber dieses Gewissen ist etwas grundlegend anderes, als das, mit dem ein Mensch den Wehrdienst verweigert.“ Eben weil der Abgeordnete Teil des Organs Parlament ist. „Er muss im Rahmen der damit bestimmten Aufgaben handeln.“

Die Frage nach dem zweiten Gewissen stellt sich selten. So gehen im Normalfall Ministerpräsidentenwahlen reibungslos über die Bühne. Aber entsprechende Hinweise finden sich doch: „Das moderne Parlament“, hat das Bundesverfassungsgericht im Juli 2000 befunden, „muss Strategien der Koordination der politischen Willensbildung entwickeln“. Sonst gefährde es „seine Arbeitsfähigkeit“. Die bekannteste dieser Strategien ist es, sich einer Fraktion anzuschließen. Das geschieht freiwillig: Wer von seinem Gewissen anders lautende Botschaften empfängt, sollte sie befolgen. Und Einzelabgeordneter werden. Bei dem ist der Einklang beider Gewissen garantiert.

Untugend geheimer Wahl

Aber warum wird denn dann der Ministerpräsident geheim gewählt? „Darüber ließe sich trefflich streiten, ob das sinnvoll ist“, so Röper. Eine Vorschrift darüber gibt es nicht. Im Gegenteil: „ „Über Anträge ist offen abzustimmen“, heißt es in der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein. „Ausnahmen können zugelassen werden“. Können: Das heißt, anders ist es auch möglich. Zwingend wäre die geheime Wahl aber dann, wenn die Gewissensentscheidung eines Teilorgans das gleiche wäre, wie die Gewissensentscheidung einer natürlichen Person.

Staatsfeind im Landtag

Das Verhältnis der beiden Gewissen zueinander: Es gibt Schnittmengen, ziemlich große sogar. Die Freiheit von Gewissen eins ist aber wesentlich größer, als die von Numero zwei. So ist die von einer Fraktion geforderte Disziplin eine Einschränkung des Gewissens. Aber eine, die im Einklang steht mit der europäischen Menschenrechtskonvention: Sie trägt bei zum Schutz der öffentlichen Ordnung. Und vielleicht ist sie sogar notwendig in einer demokratischen Gesellschaft. So wird ja auch vom Normalbürger verlangt, dass er Steuern zahlt. Auch wenn er Kriegsdienstverweigerer ist – und sein Geld hilft, Rüstungsausgaben zu bestreiten.

Einer der 69 Kieler Abgeordneten ist ein Staatsverweigerer. Wäre er bloß unloyal gewesen, hätte er Carstensen wählen müssen. Hat er aber nicht getan. Stattdessen hat er sich den anarchistischen Spaß erlaubt, per Enthaltung das Land zu sabotieren. Vielleicht fehlt ihm etwas, was ihn dazu befähigt, ein Volksvertreter zu sein: Eine Richtschnur für sein Verhalten. Die nennt man Gewissen.