Der „Dolchstoß“ von Kiel

Die ganze Republik rätselt, wer Heide Simonis die Wiederwahl zur Ministerpräsidentin vermasselt hat, warum er (oder sie) den Willen der Wähler unterwanderte – und ob er nun Held oder Halunke ist

VON ULRIKE HERRMANN

Darf man das? Nichts sagen, nichts verraten, einfach nur stimmen? Wer immer es war, der Heide Simonis nicht wählen wollte – die Urteile über ihn sind hart. Jedenfalls bei den Grünen und bei der SPD. Er sei ein „Heckenschütze“, ein Meuchelmörder, der einer „großartigen Frau“ das „Messer in den Rücken gerammt“ habe. Und außerdem ein Feigling, der noch nicht einmal den Mumm hatte, „seine Ablehnung offen zu zeigen“. Hätte er nicht wenigstens schon vor Tagen andeuten können, wie er stimmen würde? Dann wären Heide Simonis die demütigen Wahlgänge erspart geblieben. Aber nein. Was für ein Arschloch. Darf man so sein?

Darf der das?

„Dürfen“ ist ein verwirrendes Wort, weil es zwei Bedeutungen hat. Eine moralische – und eine rein rechtliche, frei nach dem Motto, dass erlaubt ist, was nicht verboten wird.

Rechtlich hat sich der anonyme X korrekt verhalten – ja, sogar hyperkorrekt. Er ist geradezu ein Musterbeispiel der Rechtschaffenheit. Endlich einmal haben die diversen Bestimmungen der schleswig-holsteinischen Landesverfassung zeigen können, wofür sie eigentlich da sind.

So fordert Artikel 11, dass Abgeordnete „nur ihrem Gewissen unterworfen“ sind. Allerdings müssen sich die Politiker normalerweise zu ihren Meinungen bekennen, weil über „Anträge offen abzustimmen“ ist.

Wider den Klüngel

Nur eine Ausnahme gibt es von der großen Transparenz und sie ist bemerkenswert: Wahlen für diverse Ämter wie den Posten des Ministerpräsidenten dürfen geheim stattfinden (Art. 16). Das ist eine deutliche Kampfansage an die Klüngelpolitik – und Anonymus X der Abgeordnete, auf den die schleswig-holsteinische Verfassung lange gewartet hat, um seine Rechte zu schützen.

Einen Nachteil jedoch hat diese erlaubte Geheimniskrämerei. Man wüsste gern etwas über die Motive des rätselhaften X. Glaubte er oder sie wirklich, dass Peter-Harry Carstensen ein großes politisches Talent ist? Und wenn ja, warum bloß? Schließlich liegt es so nahe, PeHa mit einem Bauernfunktionär aus Nordstrand zu verwechseln. Oder hat X Heide Simonis nur gehasst, weil er oder sie sich für den besseren Ministerpräsidenten hielt?

Es betrübt, dass diese Fragen Fragen bleiben und wohl nie zur Klatschgeschichte werden. Politik ohne Voyeurismus ist halb so spannend. Vor allem aber macht sich Misstrauen breit: „Der war bestimmt bestochen“, sagte eine Kollegin sofort, als sie von den vier Enthaltungen des X hörte. Schließlich gab es den Fall schon mal, 1972, als die Stasi mindestens einen Bundestagsabgeordneten kaufte, um Rainer Barzel als CDU-Kanzler zu verhindern.

Schlechtes Gewissen?

So honorig es ist, dass die Verfassung das Gewissen des X schützt – man wüsste trotzdem gern, ob sich dieses Gewissen jetzt moralisch belastet fühlt. Dafür gäbe es zwei offensichtliche Gründe:

1. Wer bei den Landtagswahlen für die SPD gestimmt hat, der wollte Heide Simonis als Ministerpräsidentin und Rot-Grün als Regierungskonstellation. Eine große Koalition war nicht beabsichtigt, da waren die Wahlaussagen eindeutig. Entsprechend konsequent äußern sich die Bürger in den Umfragen: 62 Prozent wünschen Neuwahlen. Erkennbar fühlen sie sich nicht wohl damit, dass nun ein Pakt der Volksparteien droht.

2. Auch die Parteitage von SPD und Grünen haben sich klar für die neue, alte Koalition ausgesprochen.

Wer immer X ist – er hat eklatant gegen den Willen der Wähler und seiner Parteibasis verstoßen. Es ist nicht zu sehen, welcher Gewissensgrund dies nahe legen könnte. Denn so radikal gefährlich waren die rot-grünen Reformvorschläge nun auch wieder nicht, obwohl sie die hehre deutsche Institution Gymnasium abschaffen wollten. X hat sich zwar rechtmäßig verhalten, trotzdem war er nicht im Recht.

Der Fall X verstört aber auch ganz praktisch: Die Zeitverschwendung ist so gigantisch, die ein einziger „Abweichler“ produzieren kann. Wochenlang wurde zwischen den Parteien verhandelt, wurden Parteitage abgehalten und Ministerien beschäftigt. Hunderte waren im Einsatz. Und jetzt ist der ganze Aufwand umsonst. Das deutsche Dauerhobby Bürokratieabbau hat ein neues Thema: Abgeordnete, die vorsätzlich Chaos stiften.

Die Lösung: Transparenz

Eine durchaus simple Lösung scheint sich anzubieten: radikale Transparenz. Die Personalwahlen im Landtag sind geheim, damit die Abgeordneten diese wichtigsten Entscheidungen ganz ohne den Druck ihrer Partei fällen können. Doch was den Klüngel verhindern sollte, erleichtert ihn faktisch – sind doch Absprachen nicht mehr kontrollierbar. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich X noch gar nicht darum gekümmert hat, wie sein Schicksal in einer großen Koalition aussehen könnte.

Transparenz wäre leicht zu bewirken; die Abgeordneten müssten sich nur eine andere Geschäftsordnung geben. Denn die Verfassung lässt es zu, dass bei Personalwahlen so offen abgestimmt wird wie bei Anträgen. Dann hätte sich X bestimmt sehr viel früher über seine Gewissensqualen geäußert. Das hätte viel Arbeit gespart – und wir hätten endlich erfahren, was Carstensen so anziehend macht.