: „Wie sieht es da aus, unter uns?“
Jens Thierbach
Dass ein Urahne der Spree den Boden unter unseren Füßen angeschwemmt hat, ist jetzt 20.000 Jahre her. Also einen Lidschlag, erdgeschichtlich gesehen. Jens Thierbach leitet den geologischen Dienst der Senatsverwaltung für Stadtent- wicklung, er rechnet in Jahrmillionen. 1942 in Hamburg geboren, kam Thierbach 1962 zum Studieren nach Berlin, und er blieb. 27 Jahre hat er für den Senat Bohrungen analysiert und Grundwasser gemessen. Im April geht Jens Thierbach in den Vorruhestand, denn er ist inzwischen 62 Jahre alt geworden. Auch wenn das erd- geschichtlich gesehen ein Klacks ist, kann er viel erzählen über Eichen unterm Reichstag, DDR-Kollegen und das Lebendige einer staubtrockenen Wissenschaft.
Interview ULRICH SCHULTE
taz: Herr Thierbach, ist das deutsche Parlament am Ende?
Jens Thierbach: Wie kommen Sie denn darauf?
Weil seine besten Stützen aus Holz sind.
Ach so. Na ja, das ist gar nichts Ungewöhnliches. Wie viele andere historische Bauten stehen auch Teile des Reichstagsfundaments auf alten Eichenstämmen. Die Pfahlgründungen waren in der Geschichte eine beliebte Baumethode bei unsicherem Baugrund: Die Stämme wurden versenkt und oben mit einem Gerüst verbunden. Fertig war eine sichere Basis. Das Holz kann gut ein paar Jahrhunderte halten, weil es im Grundwasser steht. Es fault nicht, weil der Luftsauerstoff fehlt.
Das haben Berlins Profiplaner des öfteren vergessen.
Leider. Früher startete eine Baustelle mit einer Wasserhaltung: Man pumpte weiträumig Grundwasser ab, um trocken ausbaggern zu können. Dadurch lagen die Eichenstämme plötzlich ein paar Jahren trocken, verfaulten und wurden instabil. Der alte Friedrichstadtpalast am Schiffbauerdamm zum Beispiel stand deshalb in der Luft – und musste 1980 abgerissen werden. Das sind dann die Momente, in denen die Öffentlichkeit merkt, warum sie die Geologen braucht.
Auf welchem Boden steht die Stadt?
Berlin ist überwiegend auf Sand gebaut. Bis in 50 Meter Tiefe finden wir in der Innenstadt hauptsächlich das, was Bauarbeiter Karnickelsand nennen. Aber es ist unsinnig, wenn in Zeitungsartikeln vom „schwierigen Berliner Baugrund“ die Rede ist. Auf Sand kann man nämlich sehr gut bauen, er lässt sich kaum zusammendrücken. Bei organischen Böden wie Torfen ist das anders. Torf gibt nach, den presst ein Haus zusammen wie einen Schwamm.
Wie ist der Untergrund entstanden?
Die Innenstadt liegt mitten in einem Urstromtal der letzten Eiszeit. Als das über tausend Meter dicke Eis sich vor 20.000 Jahren aus Berlin nach Norden zurückzog, floss durch das heutige Spreetal ein mächtiger Urstrom mit vielen Nebenarmen bis in die heutige Nordsee. Das Tal wird im Norden durch die Hangkante des Barnim begrenzt. Das sehen Sie, wo die Prenzlauer Allee ansteigt. Die südliche Begrenzung mit der Teltow-Hochfläche merken Sie, wenn sie den Mehringdamm hochstrampeln.
Und dieser Fluss schwemmte den Sand herbei?
Richtig, aus den Gletschern strömte Schmelzwasser ab. Dabei blieb in der Region vom Gletscher zerriebenes Gestein zurück, diese sandigen Ablagerungen bilden den Berliner Boden im Spreetal. Die Hochflächen sind aus Geschiebemergel, also einer Mischung aus Ton, Schluff, Sand, Kies und Findlingen.
Warum ist der Grundwasserspiegel in der Region so hoch?
Denken Sie an die vielen Seen. Überall, wo Oberflächenwasser vorkommt, tauscht es sich mit dem Grundwasser aus. Die Wasserspiegel liegen ungefähr auf gleicher Höhe. Dabei gilt die Regel, dass im Frühjahr die Flüsse mit Hochwasser das Grundwasser ernähren. Im Sommer ernährt das Grundwasser den Fluss.
Seit wann zeichnen Sie Grundwasserstände auf?
Unser Messnetz ist eines der ältesten Europas, seit 1870 zeichnen wir kontinuierlich auf. Damals lag der Grundwasserstand in Mitte zwischen 31 und 32 Metern über Normalnull, also zwei bis drei Meter unter der Erdoberfläche. Die Pegelstände können einiges über die Geschichte der Stadt erzählen.
Inwiefern?
Mit der Industrialisierung ab 1890 sank in der Innenstadt das Grundwasser um etwa einen Meter. Ab 1910 erkennt man, wie für U- und S-Bahn-Tunnel großflächig um über fünf Meter abgepumpt wurde. Mitte der 30er-Jahre lag der Pegel zwölf Meter unter der Erde. Für die Tresorkeller der Reichsbank wurden Riesenmengen Grundwasser abgepumpt. Eine wahnsinnige Verschwendung, so was ist heute undenkbar.
Warum? Baustellen wie der Potsdamer Platz reichen doch genauso tief.
Hätte man heute genauso gebaut wie damals, wäre der Tiergarten vertrocknet. Das haben wir als Umweltverwaltung verhindert. Aber moderne Verfahren schonen das Grundwasser: Großgeräte fräsen die Wände der späteren Baugrube heraus, sie werden mit Beton ausgegossen. Dann wird ausgebaggert, die Sohle wird unter Wasser gegossen. Erst ganz zum Schluss wird abgepumpt. Das Grundwasser außerhalb der Baugrube bleibt unberührt. In den letzten Jahren nähern sich Berlins Grundwasserstände wieder den alten, natürlichen Ständen. Die Leute verbrauchen weniger, die Industrie in den Ostbezirken gibt’s nicht mehr. Uns Hydrogeologen freut’s, Hausbesitzer, denen die Keller voll laufen, eher nicht.
Westberlin muss für Sie schrecklich gewesen sein: eine kleine Insel Erdreich, die auch noch total zugebaut.
Da ist was dran. Geologie braucht freies Gelände. Zwar hatten sowohl FU als auch TU geologische Lehrstühle, ich bin ja 1964 zum Studium hierher gekommen. Aber Kartieren, Aufschlüsse skizzieren oder Muschelkalk klopfen konnten wir nur in Geländepraktika im hessischen Eschwege oder im Allgäu lernen.
Hatten Sie Kontakt zu Ost-Geologen?
Die DDR-Geologie war topsecret. Alle Landkarten gab es in zwei Ausgaben – AV und AS. Die Ausgabe für die Volkswirtschaft konnte man kaufen. Sie war verfremdet, Militäreinrichtungen, wichtige Straßen oder Bahnlinien fehlten. Aber die Ausgabe für Sicherheit war super. Zu den Ostkollegen hatten wir keinerlei Kontakte. Anfang der 70er wollte ich mal das zentrale geologische Institut der DDR besuchen. Dem Pförtner habe ich gesagt: „Guten Tag, Landesgeologie Westberlin, ich würde gerne mal mit Ihren Geologen reden.“ Weiter bin ich nicht gekommen.
Warum waren die so verschwiegen?
Ich denke aus zwei Gründen: Geologen haben sehr genaue Karten und Stadtpläne mit Straßen- und Gebäudeeinzeichnungen auch in Grenznähe – ein Fest für jeden Fluchttunnelbauer. Wenn der auch weiß, an der und der Stelle ist es sandig, gräbt es sich leicht. Außerdem durften die Kollegen keine Daten aus der Volkswirtschaft weitergeben. Da sich die DDR autark mit Rohstoffen versorgen musste, war die Geologie eine angesehene Wissenschaft. Sie haben viel Geld für Exploration ausgegeben und tief gebohrt, etwa nach Erdöl.
Die Wende hat Ihnen dann Ihr Forschungsfeld erst richtig geöffnet?
Richtig, wir haben dann die DDR-Magistratsgeologie in die Landesgeologie integriert. Ganz toll war der mögliche Zugriff auf die Daten der ehemaligen preußischen geologischen Landesanstalt in der Invalidenstraße – mit einer Unmenge historischer Karten und Daten.
Inzwischen steht der Potsdamer Platz, das Regierungsviertel auch, der Tiergartentunnel ist im Sommer fertig. Ist es die rechte Zeit, aufzuhören?
Froh bin ich nicht. Ich verstehe Leute nicht, die sagen: „Hoffentlich kann ich bald aufhören zu arbeiten.“ In Rente gehen heißt für mich auch: Ich bin alt.
Welche Pläne haben Sie?
Meine Frau und ich haben in der Nähe von Torgau ein Haus gekauft. Wir ziehen also aufs Dorf nach Sachsen. In meiner Kindheit, als Hamburg bombardiert wurde, wurde ich dort evakuiert. Wir haben Verwandte und Freunde dort. Das ist eine ehemalige Stellmacherei, vorn ein kleines Haus mit Fachwerk, hinten eine ausgebaute Scheune, auf einem großen Grundstück mit Obstbäumen.
Da haben Sie sich ja einiges vorgenommen.
Man muss sich eben neue Aufgaben suchen. Vielleicht kennen Sie das: Man hinkt in seinem Altersempfinden immer hinterher – gefühlt bin ich 50 Jahre alt. Wir machen das Beste draus.
Wie gärtnert ein Geologe?
Vor Jahren hatten wir einen Kleingarten in einer Britzer Kolonie. Meine Frau und ich haben ihn sofort in einen biologisch-dynamischen Garten umfunktioniert, mit Kasten- und Hügelbeeten. Das gab schon einige Anfeindungen. Dann bin ich in den erweiterten Vorstand – man muss für seine Überzeugungen werben. Später legten die Nachbarn auch Kastenbeete an, hinten, wo es keiner sieht.
Wenn Sie ein Stück Erde umgraben, sind Sie dann ganz Gärtner?
Nein, ich sehe natürlich immer, was für ein Boden das ist. Die ersten anderthalb Meter sind ja künstlich verändert, zu oft umgebuddelt und aufgefüllt. Aber ich sehe, wo nährstoffreiche, tonige Ecken sind oder wo ich auf Sand eine Kiefer pflanzen kann.
So betrachtet, ist Geologie eine sehr lebendige Wissenschaft, oder?
Viele halten unsere Wissenschaft ja, um im Bild zu bleiben, für staubtrocken. Doch die Erde ist unsere Lebensgrundlage. Nur wenn wir über sie genau Bescheid wissen, können wir sagen, wie sie sich weiter entwickeln wird. Im Boden sind sämtliche Ereignisse und Katastrophen der Erdgeschichte aufgeschrieben – wie in einem Jahrmillionenbuch.
Lernt der Mensch aus dem Buch?
Ich bin da eher pessimistisch. Der Mensch lernt ja schon aus der menschlichen Historie nichts, wie sollte er plötzlich in Jahrmillionen denken? Nehmen Sie das große Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, das hat große Teile Europas verwüstet. Die Geologie kennt die Ursachen. Man kann Katastrophen nicht abwehren, aber davor warnen. Das aktuelle Beispiel: Ein Frühwarnsystem hätte tausende Menschen vor dem Tsunami in Südostasien gerettet. Doch die Menschheit ist leider vergesslich.
Liegt das auch daran, dass für normale Menschen geologische Zeiträume schlicht nicht denkbar sind?
Den Zeitbegriff muss man sich tatsächlich erarbeiten. Die Erde ist ungefähr 4,5 Milliarden Jahre alt, der Mensch zwei Millionen. Wenn wir es zu doll treiben, sind wir aus Sicht der Erde in einem Lidschlag wieder verschwunden. Die Geologie lehrt also eine gewisse Demut.
Wer kann sich schon vier Milliarden Jahre vorstellen?
Nehmen wir ein überschaubares Beispiel: In der Wasserwirtschaft müssen wir 50, 100 Jahre in die Zukunft denken, um unsere Flüsse sauber zu bekommen. Wir arbeiten aber mit einem kurzatmigen politischen System zusammen, dass in Wahlperioden denkt. In Berlin wissen die Zuständigen zum Glück – auch dank der vielen Baumaßnahmen –, dass Geologie hier eine Aufgabe hat.
Fühlen Sie noch Ehrfurcht, wenn Sie einen Stein in die Hand nehmen?
Manchmal schon. Die Bohrungen für den städtischen Erdgasspeicher in Charlottenburg gehen 800 Meter tief. Ich sehe bei der Bearbeitung der Bodenproben plötzlich Schichten, die seit ihrer Entstehung vor 250 Millionen Jahren noch nie wieder an der Oberfläche waren. Hinter unserer Arbeit steht ja die Frage: Wie sieht es da aus, unter uns?