BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Eine ganz kurze Geschichte der Zeit

Erwachsen sein (IV): Eltern und ihre Kinder leben leider in völlig verschiedenen Zeitmaschinen

In der Luft liegt eine Ahnung vom Ende des Winters. Der Wind weht lau, wir fahren „mit ohne Handschuhe“ Fahrrad. Tina trägt erstmals seit Monaten Strumpfhosen ohne eine Jeans darüber. Zwischen den Mülltonnen flötet eine Amsel. Die Hundehaufen auf dem Gehweg tauen. „Oh wie schön“, ruft Tina, „jetzt kommt bald der Herbst.“

Wieder ein Beweis, dass meine Kinder in einem Paralleluniversum leben. Wo ist die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein? Beim Schlafengehen. Und beim Umgang mit der Zeit.

Jonas, Tina und Stan sind völlig zeitsouverän. In drei Minuten geht das Frühstück in der Kita los? Egal, wir müssen noch mal nach der Kapuze für die Puppe suchen. Unten hupt der Schulbus? Ganz in Ruhe die Schuhe anziehen, meint mein Sohn. Wo war noch gleich der Schal? Ach, und schau mal, hier unter dem Schrank liegt ja der Schraubenzieher, den wir seit einer Woche suchen … spätestens jetzt ist es bei mir fünf nach zwölf. „Was brüllst du denn so?“, fragt Jonas erstaunt.

Ja, was brülle ich? Weiß ich denn nicht, dass es keinen Sinn hat, Kinder in unsere Zeitmuster sperren zu wollen? Redet Tina nicht manchmal im Futur III: „Morgen war ich bei Oma“? Und haben nicht alle richtigen Revolutionen mit der alten Zeitrechnung Schluss gemacht und ihre eigene eingeführt – angefangen von „n. Chr.“ über den neuen Kalender der Französischen Revolution bis zum rosaroten Panther: „Wer hat an der Uhr gedreht?“

Die Mitglieder unserer kleinen Familie leben in verschiedenen Zeitzonen. (Deshalb sind wir auch oft so müde – nachts überschreiten wir mehrfach die Datumsgrenze). Tina brennt darauf, in die Schule zu gehen. Jonas kann es nicht erwarten, erwachsen zu sein. Und wir denken oft, wir hätten noch gern mal so viel freie Zeit wie unser Nachwuchs. Das Leben ist eine Rakete, die immer mehr beschleunigt, je länger man darin sitzt. „Papa, mir ist sooo langweilig“, sagt Jonas, wenn er mal stille fünf Minuten hat – meistens, wenn ich in seinem Kalender gerade hektisch nach einem freien Termin für den Arztbesuch zwischen Fußballtraining und Kindergeburtstag suche.

„Manchmal macht unser Leben aber auch eine Vollbremsung“, sagt Anna. Sie deutet auf Baby Stan, der inzwischen zu laufen gelernt hat – naja, er „läuft“ wie diese Spielzeug-Roboter, die ihre Beine über den Boden schleifen und dabei grinsen. Aber es stimmt: Was haben wir im letzten Jahr so geschafft? Die Steuererklärung. Den Urlaub. Die Kinder am Leben erhalten. Und Stan? Hat in seinem ersten Jahr mehr gelernt, als auf alle unsere CD-ROMs passt. Für ihn rast die Zeit. Für uns steht sie still.

Eltern wünschen sich die Zeit so, wie Kleinkinder an der Videoanlage spielen: Immer hin und her zwischen „fast forward“ und „rewind“. Das Gebrüll in der Nacht, die Windpocken, die Schaukämpfe im Trotzalter, die laufenden Nasen – könnte die Regie das bitte mal im Zeitraffer ablaufen lassen! Aber dann stopp! Dieses friedliche Gesicht im Schlaf. Diese stürmische Umarmung nach dem Gezanke. Dieses Bild mit Fingerfarben „Mama und Papa als Sonnenblumen im Garten“. Das hätten wir gern noch mal in Zeitlupe. Und noch mal. Und dann als Standbild. Können Sie uns davon eine Kopie machen?

Kinder haben kein Zeitgefühl. Eltern verlieren ihres, je mehr sie mit ihrem Nachwuchs zu tun haben. Eltern denken, wie schön doch die Zeit vor den Kindern war. Und wie schön sie wird, wenn die Kinder aus dem Haus sind. Dann aber sitzen sie vor Fotos, um sich daran zu freuen, wie lustig es war, als der Kleine die Tapete mit Joghurt anmalte.

Wir wissen, dass mit unserer Zeit irgendwas nicht stimmt. Deshalb fasziniert uns die gute alte Zeit. Deshalb lieben wir Geschichten über Zeitmaschinen. Deshalb freuen wir uns auf Hochzeiten. Deshalb arbeiten wir bei einer Zeitung. Und lesen manchmal Die Zeit. Bis wir das Zeitliche segnen.

Das klingt alles ziemlich bescheuert, meinen Sie? Schon möglich. Unser Zustand hat einen offiziellen Namen: Elternzeit.

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER Fragen zu Chronos? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN