: Die belebte Natur würfelt doch
Die Vielfalt der Arten sei in Gefahr, heißt es. Dabei wissen wir noch nicht einmal, wie viele Arten die Natur in ihrem wuchernden und verschwenderischen Wahnwitz überhaupt hervorgebracht hat – und schützen kann man doch nur, was man kennt
VON CORD RIECHELMANN
„Man selbst ist eine Stagnation schon seit Jahrzehnten, und hier draußen ist jeder Dreck ein frischer Trieb“ Rainald Goetz
Der Widerspruch zwischen individuell erlebter Menschenzeit und dem Gang der Natur kann besser nicht ausgedrückt werden als mit diesem Zitat. Das Draußen der Natur birgt eine Gefahr, ihr wucherndes Chaos kann nicht mit dem Menschenalter synchronisiert werden. Das Programm, wie von Menschenseite damit zu verfahren sei, findet sich bei Francis Bacon formuliert, und es enthält bereits alle Motive, die die Aufklärung dann entfalten wird: Beherrschung der feindlichen Natur durch ihre Entzauberung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Kosmos der Berechenbarkeit.
„Gott würfelt nicht“ – wir befinden uns ja gerade im Einstein-Jahr – lautet ein Diktum der Ikone von Genie und Wissenschaftlichkeit im 20. Jahrhundert. Der Gott, mit dem wir es hier zu tun haben, die belebte Natur nämlich, würfelt aber doch. Zufällig und richtungslos entfalten die lebenden Organismen sich in der Welt. Sie tun es, wie es ihnen gefällt, auf eine Art, die den Universalgesetzen der Natur zwar nicht widerspricht, sich aber trotzdem nicht aus ihnen ableiten lässt.
Die physikalische Zeiterfahrung, wie sie in Einsteins Relativitätstheorie vermessen wird, hat mit dem Erleben der Menschenzeit als Frist, als Zeit bis zum Tod, überhaupt nichts zu tun. Von Günther Anders stammt das Bild des Chemikers, der hinter dem Sarg seiner Frau gehend allein bleibt, weil ihm die physikalisch-chemischen Erklärungen der Welt über diesen Zustand nichts sagen können.
Der im 19. Jahrhundert endgültig als gottlos-immanent installierte Kosmos der Moderne hat eine ungeheure Spaltung im Menschen freigelegt, die nicht überwunden werden kann, nur anerkannt. Die Spaltung betrifft aber nicht nur den Menschen, sie durchzieht die Natur selbst, und sie wird bereits im 19. Jahrhundert in der Wissenschaft wie in der Kunst thematisiert. Es gab nicht nur die Berechner, es gab auch die Sammler, die „die tropische Irregularität der Natur“, den wuchernden und verschwenderischen Wahnwitz ewiger Selbstreproduktion gegen die Naturgesetze ins Feld führten. Das sind Kämpfe, die bis heute nicht entschieden sind und zum Beispiel den schwierigen Begriff der Artenvielfalt berühren. Die Formenvielfalt des Lebendigen ist weder mit mathematischen Komplexitätsmodellen noch mit ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen auf eine Linie zu bringen, die eine allmähliche Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten beschreibt.
Ein Leser dieser Zeitung hat in einer Antwort auf einen Text, der den Begriff des ökologischen Gleichgewichts als idealistische Konstruktion darstellt (taz vom 1. 2. 05), geschrieben, es gehe nicht um die Präzision von Begriffen, sondern um das Verschwinden tausender Arten. Woher aber, kann man fragen, weiß der Leser denn „um das Verschwinden tausender Arten“? Es ist nämlich tatsächlich so, dass es bis heute kein vollständiges Inventar der auf der Erde lebenden Arten gibt. Man weiß nicht, wie viele Arten es gibt. Also weiß man auch nicht, ob die Menge der Arten abnimmt.
Artenvielfaltserhaltungsmahnern wie den Biologen Edward O. Wilson oder Robert M. May ist die Schwere dieses Einwands durchaus bewusst. Sie fordern deshalb eine möglichst schnelle Erfassung des Artenbestands der Erde. Um den langsamen Vorgang der klassischen systematischen Bestimmung von Pflanzen und Tieren zu beschleunigen, drängen sie auf molekulargenetische Methoden und die Sammlung der Ergebnisse in Gendatenbanken, die superschnell qua Rechner Neues von Altbekanntem trennen und endlich das Inventar liefern, von dem aus das Artensterben manifest dokumentiert werden kann.
Von den ersten Arten-Gendatenbanken war in letzter Zeit bereits zu lesen. Es gibt allerdings ein methodologisches Problem dieser reduktionistischen Beschreibung einer Art, die notwendig den lebendigen Organismus in seinen biologischen Ansprüchen auf Gensequenzen verkürzt, und dies Problem ist älter als alle molekulargenetischen Verfahren.
Der schottische Naturforscher und Mathematiker D’Arcy Wentworth Thompson (1860–1948) bringt es in seinem 1917 erschienenen und bis heute einflussreichen Werk „On Growth and Form“ (deutsch: „Form und Wachstum“, 1973, Frankfurt a. M.) auf die Formel: „Nichts kann den physikalisch-mathematischen Charakter dieser Gebilde [bestimmte Strukturen in von Ernst Haeckel beschriebenen Radiolarien-Arten, das sind im Meer lebende Strahlentierchen. C.R.] besser kennzeichnen als ihr häufiges Vorkommen in verschiedenen Gruppen von Organismen. Es ist eine einfache Tatsache, dass wir über die Dinge von der biologischen Seite um so weniger zu wissen scheinen, je mehr es uns gelingt, ihren physikalischen und mathematischen Charakter zu verstehen. Ich habe den Glauben an die viertausend Radiolarien-Arten von Haeckel verloren.“
Ohne jetzt hier auf das spezifische Vorhaben Thompsons eingehen zu wollen, spricht aus dem Zitat die Dichotomie physikalisch-mathematischer und biologischer Erklärungen, die in Thompsons Version in einer Ablehnung der biologisch-systematischen Artenvielfalt gipfeln. Dass Thompson dabei vom verlorenen Glauben spricht, spricht für ihn. Denn die 4.000 Radiolarien-Arten wird er genauso wenig kennen wie jeder andere Nichtspezialist für Strahlentiere. Auch deshalb ist Artenvielfalt schwierig und in den meisten Fällen sogar nervend, weil sie einen andauernd mit Nichtwissen konfrontiert. Und die Verlockung, vom Nichtwissen durch die potenzielle Datenbank per Mausklick entlastet zu werden, ist verständlich.
Nur was erklärt sie? Wenn man voraussetzt, dass man nur schützen kann, was man kennt, nicht so viel. Man wird über Arten, ihr Verhalten, ihre Ansprüche, die ihre je spezifischen Umwelten konstituieren, nur mit Gendatenbanken keine zureichenden Aussagen machen können. Das heißt nicht, dass man auf molekulargenetische Methoden und Verfahren verzichten soll. Im Gegenteil, nur müssen evolutionsbiologisch-organismische Methoden hinzukommen und das letzte Wort behalten. Sonst besteht die Gefahr, schon mit dem Blick auf die Gene die Artenvielfalt zu erledigen.
Der kürzlich verstorbene Evolutionsbiologe Ernst Mayr, im übrigen ein exzellenter Kenner der Artenvielfalt Neu-Guineas, hat in fast jedem seiner Bücher darauf hingewiesen. Man wird also weder die Erfassung noch den Schutz der Arten ohne eine präzise Beschreibung des Gegenstandes und ohne eine genaue Formulierung der Ansprüche an die Registrierungsmethoden erreichen. Der Begründer der modernen Umweltlehre, Jacob von Uexküll, sagt es so: Ein Wissenschaftler muss zuerst, wenn er ein Tier beobachtet, die Bedeutungsträger erkennen, die dessen Umwelt definieren. Von Uexküll redet denn auch im Plural von Umwelten, denn einen Wald gibt es für ihn nur als Wald-für-den-Förster, Wald-für-den-Jäger, Wald-für-den-Botaniker, Wald-für-den-Naturschwärmer usw.
Der objektiv festlegbare Wald existiert für von Uexküll nicht. Und das tut er eben auch für die neuere Ökosystemforschung nicht, auch deshalb arbeitet sie im Unterschied zur herrschenden Politik und vielen Naturschützern ohne den Begriff eines ausgedachten ökologischen Gleichgewichts. Es hilft auch hier nichts, der Gebrauch dieses Begriffs, dessen Implikationen weder durchschaut noch begründet werden können, richtet mehr Schaden an, als dass er nützt.
Man kann es an der Antwort eines anderen Lesers verdeutlichen. Die Regulation von Gleichgewichten, schrieb er, würde in den einfacheren Fällen etwa über Räuber-Beute-Beziehungen erfolgen. Wirklich? Auch wenn es in jedem Schulbuch anders steht: Es gibt nur einen einzigen Fall eines einfachen Räuber-Beute-Systems in der Natur, die Beziehung zwischen Lemming- und Hermelin-Populationen auf Grönland. Und die regulieren sich gegenseitig, mehr nicht. Auf alle anderen Ökosysteme und Lebensverhältnisse haben sie notwendig keinen Einfluss.
Der populäre Gebrauch der falschen Abstraktion eines Räuber-Beute-Verhältnisses wird allerdings jedes Jahr von neuem zur Begründung einer tatsächlichen Wirklichkeitsvernichtung angeführt. Die Verfolgung von Füchsen und Rabenvögeln wird in fast jeder Jagdzeitschrift mit dem Hinweis agitiert, gerade diese Tiere seien für das Schwinden von Hasen und kleinen Singvögeln verantwortlich. Und die Jägerlobby in den Parlamenten findet das auch gut so.
„Schon die Reinigungs- und Abwehrmaßnahmen erzeugen eine unermessliche Unordnung, in der Theorie wie in der Praxis“, schreibt Michael Rutschky in seiner geistesgeschichtlichen Untersuchung des Phantasmas Ökosystem dazu passend (taz vom 7. 3. 05). Natürlich gibt es für die behauptete Beziehung zwischen Füchsen und Hasen oder Elstern und kleinen Singvögel keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis. Allerdings eine gut belegte Beobachtung, die eher das Gegenteil nahe legen lässt: Dort wo weder Hasen noch Füchse bejagt werden, nehmen beide zu. Das stört aber weder die Politik noch die im Parlament mit wahrscheinlich absoluter Mehrheit vertretenen Jäger.
Sie verkürzen den Umweltbegriff, mit nur einem Zweck: Wirklichkeit im schönen Begriff zu verdecken.