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Archiv-Artikel

Der Faktor Wirklichkeit

Ganz am Anfang in der Geschichte des Blues war da noch die Klage, die Melancholie des Verlusts, die sich über die Blues-Clubs langsam und nachhaltig Gehör im weißen Teil der Welt verschaffte. Was ist aus dem Bluesclub geworden? Ein Besuch im Bremer Meisenfrei, der „Insel von Blues und Rock ’n’ Roll“

von Klaus Irler

Der Himmel hängt voller Gitarren. Eine neben der anderen. Dabei ist es neblig im Blues-Himmel, denn vom Tresen steigt in regelmäßigen Abständen Rauch auf. Ein graumelierter Herr sitzt da, unter dem Trenchcoat trägt er Zweireiher mit Schlips, die Zigaretten dreht er selber. Manchmal nickt er zum Groove des verwaschenen Blues-Rock, der aus dem Himmel kommt. Als wären’s die Gitarren, die das Spielen nicht lassen können.

Aber diese Musik kommt aus den Boxen, denn dieser Tresen gehört zu der vorgeschalteten Kneipe, durch die der Weg führt in den Live-Club. Dort dann: Eine geräumige Bühne, viel Holz, eine rote Telefonzelle im Eck, unter der schwarz getünchten Decke silberne Abluftrohre – der Blues-Club „Meisenfrei“. Hier macht Krümel, 37, den Tresen. „Krümel mit einem ‚m‘. Mit zwei wäre es das Kernkraftwerk bei Hamburg. Das bin ich nicht.“

Über den Tresen sagt Krümel: „Das hier ist eine bierlastige Geschichte. Kein Schnick-Schnack. Caipirinha oder Cappuccino gibt’s hier nicht, aber Kaffee kannst Du haben.“ Einmal habe einer die Speisekarte sehen wollen, erzählt Krümel. „Da habe ich ihm eine Bifi mit Besteck auf den Tresen gelegt und gesagt: ‚Der Rest ist aus‘.“ Krümel ist seit dem ersten Tag des Blues-Clubs dabei, „das war der 3.12.1997“. Auf den Tag genau? „Wenn Du Dich mit etwas identifizieren kannst, erinnerst Du Dich auch.“ Kommendes Jahr wird im Meisenfrei das 1.000ste Konzert stattfinden. Krümel wird dabei sein.

Viel länger als den Blues-Club Meisenfrei gibt es die gleichnamige Kneipe, die dieses Jahr ihren 21. Geburtstag feiert. Während die Kneipe bei ihrer Gründung Mitte der 1980er Jahre noch als Gegenentwurf zu New Wave und glatten Pop-Oberflächen durchging, fällt die Club-Eröffnung Ende der 1990er Jahre in eine Zeit, die so gar keine Haltung gegenüber dem Blues haben wollte. Selbst versteht sich das Meisenfrei als „Insel des Blues & Rock’n’Roll im Meer der Diskotheken“, und tatsächlich ist die Szene überschaubar geworden: Hannover hat noch die „Blues-Garage“, in Hamburg kennt man den „Downtown-Bluesclub“, in Oldenburg gibt‘s „Charley’s Blues Kneipe“ und in Hildesheim veranstaltet ein gemeinnütziger Verein Blues in der „Bischofsmühle“.

Der Blues hat’s schwer, aber daran, dass keiner mehr den Blues haben will, liegt das nicht. Thema Melancholie: „Ich habe den Blues auch den ganzen Tag, aber das heißt nicht, dass mich das runterzieht“, sagt Krümel und lacht. Schließlich gebe es viele Facetten, im Leben wie im Blues. Krümel ist sich sicher: „Handgemachte Musik kann Dich nicht runter holen.“

Die musikalische Entwicklung des Blues mag stagnieren, aber live, live bleibt der Blues immer. „Meise iss besser als fernsehn!“ heißt es im Internet-Forum des Meisenfrei und Krümel sagt: „Ich höre alles gerne, was mit wirklicher Musik zu tun hat.“ Der Faktor Wirklichkeit: der Blues hat den gleichen Trumpf, mit dem auch das Theater im gegenwärtigen Kulturangebot stechen kann. Nur dass die Verpflegung eine andere ist: „Empfehlung des Küchenchefs: 7-Gänge-Menü – 6 Halbe + 1 Frikadelle für 19,50“ heißt es auf einem Plakat in der Meisenfrei-Kneipe.

„Live-Musik anzubieten, ist ein Kampf“, sagt Krümel. Das Publikum könne sich den Konzertbesuch oft nicht mehr leisten, einerseits. Andererseits sind da die Kosten, von den Gema-Gebühren über die Gagen bis zum Hotel für die Musiker. „Das Meisenfrei überlebt deswegen“, sagt Krümel, „weil die Stammgäste hier viel ehrenamtlich machen. Wir sind keines von diesen Kulturobjekten, die mit öffentlichen Geldern gefördert werden. Hier im Club ist alles Marke Eigenbau.“

Handgemachte Musik, handgemachter Club: Als Wandbeleuchtung hängen beispielsweise umfunktionierte Zapfhähne an den Wänden. Oder die überdimensionale, mehrere Meter lange Gitarre an der Wand: ein selbst gebasteltes Gastgeschenk. „Das ist wie Kommunismus, was hier abläuft. Jeder macht, was notwendig ist und keiner nimmt sich mehr, als er braucht.“

Vielleicht erklären sich so die beiden Sowjetsterne, die anstelle von I-Tüpfelchen auf dem „Meisenfrei“-Schild über der Kneipe angebracht sind. „Familiär ist das hier“, sagt Krümel. Trotzdem gilt: 300 Leute fasst der Club. Das Ziel ist, ihn voll zu bekommen.