: Rot-Weiße Diskretion
Die Jury ist sich einig: Nur Essen oder Görlitz kann Kulturhauptstadt 2010 sein. Warum? Bekenntnisse eines Juroren
Natürlich war unsere geräderte Gerichtsbarkeit bestechlich. Um es mit Brechts Richter Azdak zu sagen: Wir nahmen. Zum Beispiel erlesenes Fingerfutter während der Hearings, Stapel von nachgereichtem Material (auch teure Bildbände); vor allem nahmen wir Regenschirme. Sie waren uns bei gleich bleibend schlechtem Wetter, für das sich die Stadtväter gleich lautend launig entschuldigten, nötig, selbst für den kürzesten Open-Air-Galopp. Erst im verschneiten Regensburg zeigte sich der Winter malerisch, und auf Bremen schien sogar minutenlang eine kühle Sonne. Keine Konkurrenz für die warme Ausstrahlung Bürgermeister Henning Scherfs, bis er unserm Trupp plötzlich abhanden kam. Selbstvergessen war er lieber einer Kinderwagen-Familie gefolgt, die ihn angesprochen hatte, und desertierte von der Bewerbung, die uns sein fast schon eingebürgerter Stadtregisseur Martin Heller gerade schmackhaft machte, nach allen Regeln der Zauberkunst: Plötzlich zeichnete eine Tanzgruppe, gefangen in einer verglasten Brücke über der Straße, ausdrucksstarke Figuren in den schon wieder grauen Himmel. Inzwischen stand der Bremer Bürgersinn in Scherfscher Übergröße wieder mitten unter uns, und wir glaubten ihm aufs Wort, dass die Stadt so reich sein könnte, wie sie schön war, wäre sie von ihrem bundesrepublikanischen Hinterland unabhängig wie Singapur. So machten unkalkulierte Zwischenfälle eine Stadt als Kulturstadt erkennbar. Selbst der Regenschirm Bremens, der kein Logo nötig hatte, bestach uns in seiner rot-weißen Diskretion, die ihn auch in Essen, der nächsten Station, tragbar gemacht hätte. Natürlich bekamen wir dort einen neuen, und natürlich kam uns auch dieser unterwegs abhanden. Essen aber sollte uns bleiben.
Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste, war Mitglied der Jury, die im Auftrag der Kultusministerkonferenz zwei deutsche Städte als Kandidaten für die Europäische Kulturhauptstadt 2010 vorschlagen sollte.Der hier dokumentierte Text ist ein Auszug aus einem am 17.3.05 in der ZEIT erschienen Artikel von Adolf Muschg.