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Archiv-Artikel

Auf Seelenfrische

Es waren drei Tage des Schreckens in jener Turnhalle der Schule Nr. 1, Anfang September im vergangenen Jahr: das Geiseldrama in Beslan. Es endete in einem Blutbad. Jetzt malen die Kinder aus Beslan an der Nordsee Bilder, um den Schrecken loszuwerden. Manchmal ist dabei auch ein Lachen zu hören

Aus St. Peter-Ording Esther Geißlinger

Vor allem die Kleinen. Es gibt so wenig Erstklässler in Beslan, so wenig Kindergartenkinder. Ihre Beine waren zu kurz um zu fliehen, als die Hölle losbrach.

Alina, Rosita, Asamat, Tamarlan und die anderen sind älter, schon acht, zehn, 13 Jahre alt. Sie haben überlebt – sie sind aus jener Turnhalle der Schule Nr. 1 herausgekommen. Aber ein bisschen stecken sie immer noch drin, jetzt, ein halbes Jahr danach. Jetzt, in Deutschland.

Die Kinder und ihre Mütter sitzen an Tischen mit grün-weißen Decken. Es gibt Süßigkeiten und Brause, Geschenke von der Gemeinde. Vor dem Fenster rauscht der Wind, das Meer ist nicht weit. Wäre es Sommer, könnten die Kinder zum Strand hinunterlaufen und baden. Aber dafür ist es noch zu kalt. Es ist März in St. Peter-Ording. Und die Kinder sind nicht zum Baden da. Sie arbeiten. Mehrere Lehrerinnen und eine Psychologin begleiten die Gruppe, es gibt Unterricht – außerhalb einer Schule, weil die Kinder von Schulgebäuden Albträume bekommen. Es wird versucht, die Wunden an ihren Seelen zu flicken.

„Djen znanija“, Tag des Wissens, heißt der 1. September in den GUS-Staaten, weil an diesem Tag in der ganzen ehemaligen Sowjetunion die Schule beginnt. Am 1. September 2004 lernten die Kinder von Beslan und mit ihnen die ganze Welt eine schreckliche Lektion. Eine Gruppe tschetschenischer Kämpfer stürmte die Turnhalle und nahm alle gefangen, die dort die Einschulung feierten. In einer perfiden Logik waren Tag und Ort gut gewählt: Nicht nur Eltern, Lehrer und Schulkinder waren da, sondern auch viele kleine Geschwister: „Der Kindergarten wurde renoviert und war geschlossen, die Mütter hatten die Kleinen mitgebracht“, erinnert sich Svetlana Gesebisova, die mit ihrem zehnjährigen Sohn Asamat in der Turnhalle stand. Das Verbrechen macht die 42-Jährige immer noch wütend und fassungslos: „Weil es gegen die Allerschwächsten, die Allerhilflosesten ging.“

In den drei Tagen in der Turnhalle – am 3. September endete die Geiselnahme mit einem Blutbad – versuchte sie ihren Sohn immer wieder zu beruhigen: „Aber was soll man sagen, wenn er einen aus großen Augen anschaut?“ Denn der Gedanke, dass der Tod neben ihnen in der Halle saß, ließ sich nicht vertreiben in den langen Stunden, in denen die Luft immer stickiger wurde und es nichts zu essen oder zu trinken gab.

Larissa Mamitova hatte es vielleicht ein bisschen leichter als die anderen. „Sie ist eine echte Heldin“, sagen die anderen Frauen. Mamitova, kurze Haare, schmale Brille, über die sie hinweg schaut, schüttelte nur den Kopf. „Ich hatte keine Angst, ich habe an die anderen gedacht.“ Die 45-jährige Ärztin meldete sich, als die Geiselnehmer nach medizinischer Hilfe fragten. Ab diesem Zeitpunkt konnte sie immerhin mit ihnen reden, verhandeln. Während ihr 13-jähriger Sohn Tamarlan mit einer Kalaschnikow bedroht wurde, ging Mamitova nach draußen und überbrachte Forderungen. Sie berichtete auch, wie viele Geiseln in der Turnhalle ausharrten: 1.300, nicht nur ein paar Hundert, wie das Radio verkündete.

Sie weiß, dass die russische Regierung Gespräche verweigerte, dass es niemanden gab, der vor der Schule den Einsatz leitete. Nach dem blutigen Ende des Dramas fehlten Rettungswagen. Menschen starben, weil sie in Privatautos in die Krankenhäuser gefahren werden mussten. Die Angehörigen mussten betteln, bis sie sich in den Leichenschauhäusern überzeugen durften, ob die Ihren dort lagen. „Niemand hat sich um uns gekümmert“, sagt Mamitova. Der russische Staat war weit weg von seinen Kindern, als sie ihn brauchten.

Die Ärztin hat ihre Geschichte oft erzählt. Sie spricht schnell, als wolle sie es hinter sich bringen. Von dem Zimmer voller Blut, den Leichen, die aus dem Fenster geworfen wurden. Vom Besuch eines Unterhändlers, der sich feiern ließ, aber nur erreichte, dass Frauen mit Babys gehen durften. Eine kam gleich wieder zurück, als sie den Säugling in rettende Hände gelegt hatte: „Ich habe noch zwei andere Kinder hier drinnen.“ Die Frau starb, eines ihrer Kinder auch.

Die Überlebenden malen Bilder, um den Schrecken loszuwerden. Ljuba Schmidt zeigt eines davon: Zu sehen ist ein Blick von oben auf die Turnhalle, detailscharf mit Kletterstangen und Wurfkörben. Die Wege zwischen den Menschen sind zu sehen, die Bomben, die zwischen ihnen stecken. Die Menschen selbst sind nur Kreise, Köpfe von oben betrachtet. Alle gleich.

Ljuba Schmidt, geboren in Russland, lebt seit 36 Jahren in Deutschland. Sie hat die Reise der Gruppe organisiert – finanziert hat die Fahrt das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg, das Spenden für Beslan gesammelt hatte und auf eine Gelegenheit wartete, es sinnvoll einzusetzen. Diese Reise, erst nach Berlin und Regensburg zu Ärzten, dann an die Nordsee, ist so ein sinnvoller Zweck. Zwar erhalten die Kinder in Beslan psychologische Betreuung, aber weil die Heimat zum Ort des Schreckens geworden ist, fällt es unter einem fremden Himmel leichter zu vergessen.

„Die Kinder lachen, sie machen sich kleine Feste“, beobachtet Svetlana Gesebisova. Und fügt hinzu: „In Beslan hört man kein Kinderlachen mehr auf der Straße.“

Es fehlen so viele, die lachen könnten.