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Archiv-Artikel

Der Samuraiweg

In Tsumago leuchten abends immer noch Laternen aus Reispapier: Nostalgietourismus als Überlebensstrategie. Dort beginnt ein alter Überlandweg. Eine Wanderung in Japan

VON MARCO KAFFMANN

Mit jedem Umsteigen verliert die Reise an Tempo. Von der flippigen Hauptstadt Tokio braust der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen mit 300 Stundenkilometern nach Nagoya. Die Landschaft huscht vorbei, der heilige Berg Fuji mit seiner weißen Kuppe, das Häusermeer, Teeplantagen. In Nagoya steigen wir in einen „Limited Express“, und später in den Regionalzug. Die Expo-Stadt Nagoya, von Reiseführern gemeinhin als Besuchsziel zweiter Klasse qualifiziert, ist bald außer Sichtweite.

Das ländliche Japan übernimmt nun. Bambushaine, Bauernhäuser mit weit geschwungenen Dächern und parallel zum Schienenstrang ein Wildbach wie im Schweizer Maggiatal. Wir sind im Kisotal und nähern uns so dem Nakasendo, einem der alten Fernwege, welche die Kaiserstadt Kioto mit dem Sitz des Schoguns in Edo, dem heutigen Tokio, verbanden.

Die Überlandwege aus dem 17. Jahrhundert sind zu weiten Teilen vom Japan der Neuzeit verdrängt worden. Anders im Kisotal, wo Poststationen restauriert, Pflasterwege freigelegt und ehemalige Unterkünfte für Pilger und Schogune zu Museen umfunktioniert wurden. Tsumago ist eine der 67 Poststationen am Nakasendo und Ausgangspunkt einer Wanderung, die über den Magomepass zur nächsten Raststation führt.

Am Dorfeingang hängen Gebote von damals. Nicht mehr als ein Lokalfürst durfte in einer Gaststätte nächtigen. Weil sich zwei Fürsten gegen die Obrigkeit hätten verbünden können. Damals waren in Tsumago Pilger, Boten und Samurai unterwegs. Dieser Tage sind es japanische Touristen, die unter zustimmenden „Ohs!“ Fische kosten, die über dem offenen Feuer gegart wurden, und die schwarz lackierte Toilette besichtigen, die damals einzig Kaiser Meiji zustand. Nur kam der nie nach Tsumago.

Besuch bekam das Dorf vom heutigen Kaiser, das muss allerdings ein paar Jahre her sein. Leicht vergilbt ist das Bild von Kaiser Akihito, das in einem Nudellokal hängt, eingefasst mit Klarsichtfolie. Nebenan Menüvorschläge, die mit Filzstiften gezeichnet wurden, und eine Uhr, die nie etwas anderes als zehn vor zwei zeigt.

In Tsumago ist die Zeit stehen geblieben. Das Dorf war vom Aussterben bedroht und erinnerte sich deswegen in den 1960er-Jahren seiner Vergangenheit – Nostalgietourismus als Überlebensstrategie für die Zukunft. Tsumago ging mit Konsequenz ans Werk und hat die Modernität ausgemerzt: Getränkeautomaten stehen überall in Japan, nicht aber in Tsumago. Elektrische Leitungen sind im Boden verschwunden und Fernsehantennen hinter Gebüsch. In den Abendstunden leuchten Laternen aus Reispapier.

Im Ryokan, wie Japans traditionelle Gasthäuser heißen, hat der Hausherr ein 44-Grad-Bad bereitet. Man steigt hinunter in die ein Meter tiefe, rechteckige Holzwanne. Nach dem Bad wird das Wasser mit vier hölzernen Platten bedeckt, damit die Wärme dem nächsten Gast erhalten bleibt. Japanerinnen und Japaner werden ausländischen Besuchern jeden Fehltritt nachsehen, nur einen nicht: mit einer Seife ins Gemeinschaftsbad zu gehen. Die Körperpflege ist vorher, neben der Wanne, zu erledigen.

Im Zimmer ist der Futon bereits auf dem Tatamiboden, den Strohmatten, ausgerollt. Statt einer Zentralheizung hebt ein faszinierendes Gemisch von Wärmedecken, Elektrostrahlern und Heizkissen die Raumtemperatur. Nur den Blumen wurde das zu viel. Auch der eine oder andere Einrichtungsgegenstand wirkt verwelkt. Die Schiebetüren mit verblichenen Seidentapeten und Wasserflecken, die Perlmutteinlagen auf dem lackierten Holztisch und die Garderobe mit Kranichen. Nicht gestylt, sondern gemütlich ist es hier. Das Rauschen des Bachs, der mitten durch den Innenhof des Ryokan fließt, wird die Nachtruhe friedlich begleiten. Glück gehabt – denn ins Gästebuch haben Kinder schnarchende Zimmernachbarn gezeichnet. Durch die Papierwände hört man jedes Flüstern.

Ein japanisches Frühstück ist nicht jedermanns Sache. Aber wer wird den morgendlichen Fisch verschmähen, wenn er von einem Spiegelei in Herzform begleitet wird? Das sanfte Geräusch sich öffnender Schiebetüren zeigt an, dass es nicht der letzte Gang war. „Dozo“, bitte schön, sagt der Kellner und reicht Misosuppe mit Kartoffeln, einen Salat und in einem schwarzen Holzbehälter Reis.

Solchermaßen gestärkt, machen wir uns auf den Nakasendo, den alten Samuraiweg, der zwischen Tsumago und Magome als Wanderweg auferstanden ist. Mal auf Pflastersteinen, mal auf Asphalt, meist aber als Naturpfad. Der gut ausgeschilderte Pfad windet sich hinauf durch ein enges Tal, durchquert Bambushaine und Zypressen. Vorbei an einer Fischzucht, die sich über mehrere Terrassen erstreckt. Was von der Ferne einer Futterkrippe ähnelt, entpuppt sich später als Schrein. Nach einer Stunde kündigt ein Schild zwei Wasserfälle an, einer weiblichen Geschlechts, der andere männlich – so sah es zumindest der Schriftsteller Eiji Yoshikawa. Dem unbedarften Wanderer bleibt die Geschlechterteilung etwas rätselhaft, erkannte Yoshikawa doch ausgerechnet im breiten, schleppenähnlichen Strahl, den männlichen Wasserfall. Das Tal verengt sich. Zedern und Papyrussträucher lösen den Bambuswald ab. Dazwischen Vorboten der Kirschblütenzeit, die Japan Ende März bis Anfang April in einen rauschhaften Zustand versetzt.

Der Magomepass auf 801 Meter Höhe ist eine Enttäuschung – keine Aussicht, nur Straße. Wer des Wanderns überdrüssig ist, steigt hier in den Bus, der die beiden Dörfer in unregelmäßigem Abstand verbindet. Beinahe versteckt ein japanisches Gärtchen. Ein Schild in fantasievollem, handgeschriebenem Englisch hält die Besucher an, Abfall nicht liegen zu lassen. Doch die Belohnung für den Aufstieg stellt sich doch noch ein. Vor uns öffnet sich ein Tal, das sich über Reisterrassen hinab in eine Ebene schwingt. Ein Weitwinkelpanorama mit Bambushainen, Bergketten und Wiesen.

Das moderne Japan meldet sich in verträglicher Dosis zurück: Der nächste Weiler besteht aus Holzhäusern. Aber anders als in Tsumago säumen Getränkeautomaten die Straße, die Telefonleitungen sind oberirdisch verlegt. Auf einer Wäschestange aus Plastik lüfte jemand eine „Hello Kitty“-Decke aus.

„300 Meter bis nach Magome“, verspricht ein Wegweiser, was man kaum glauben kann. Von einem Dorf ist nichts zu sehen. Doch Magome ist in einem steilen Hang verborgen und zeigt erst allmählich mehr von sich. Eine steile Straße mit groben Pflastersteinen, ein kleines Bächlein am Straßenrad plätschert den Berg hinunter, links und rechts restaurierte Häuser mit frisch gemeißelten Mauern. Ein Mann im Drogistenkittel verteilt in kleinen Bechern Grüntee, am Stand nebenan sind Reisbällchen mit Sesam-Walnusssauce zu haben.

Vom Fuß des Dorfes strömen japanische Touristen hinauf. Sie machen kurz Halt in Magome und werden im Auto nach Tsumago fahren. Ein Coop gegenüber der Busstation markiert unvermittelt das Ende des historischen Dorfes. Ein Schild weist nach Kioto, dem Ausgangspunkt des Nakasendo, rund 500 Kilometer von hier.