kleine schillerkunde (3)
: Das Rätsel um die Knochen Schillers

Ein erdichteter Schillermord und seine verschwörungstheoretischen Folgen

In einer Schrift mit dem Titel „Der ungesühnte Frevel“ behauptete die Generalsgattin Mathilde Ludendorff 1934: Schiller sei von Freimaurern vergiftet und seine Leiche absichtlich spurlos beseitigt worden. Goethe habe um die Mordpläne gewusst, Schiller nicht gewarnt und aus schlechtem Gewissen nicht an der Beerdigung teilgenommen. Vorlage für diesen Irrsinn war die 1911 erschienene Erzählung „Schillers Ende“ von Ernst Hellwig, der als Täter den jungen Heinrich Voß anzeigte. Schillers Leiche sei fortgeschafft, der Obduktionsbericht gefälscht und das Opfer anonym in einem Armenbegräbnis versenkt worden.

In der Tat gab es lange Zeit kein Grab, zu dem Schillers Verehrer pilgern konnten. Als ein Jugendfreund Schillers 1826 den Weimarern mit Brandstiftung drohte, sollten sie den geliebten Toten nicht endlich gebührend beisetzen und mit einem Denkmal ehren, fand man es – hier setzt wieder die Ludendorff’sche Demagogie ein – behördlicherseits für geboten, das so genannte Kassengewölbe, in dem Schillers Reste verschwunden waren, gründlich zu säubern, um auch die letzten Spuren zu beseitigen. Nur der mutigen Tat des Bürgermeisters Schwabe sei die Auffindung von Schillers Schädel zu verdanken, die Goethe in dem Gedicht „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“ dreist sich selbst zugeschrieben habe. Logenbruder Goethe habe eine kleine Vitrine bauen lassen. Ein Postament für die schnell beschaffte berühmte Schiller-Büste von Dannecker sei mit einem Geheimfach versehen worden. Als Besucher an dieser Schauerreliquie in der Bibliothek Anstoß nahmen, habe Goethes osteologischer Eifer Nahrung erhalten. Aus dem Bodensatz des „Kassengewölbes“ gelang es ihm, 80 Prozent eines Skelettes zu rekonstruieren, das nun in die frisch gebaute Fürstengruft gelegt wurde.

Die Goethegesellschaft hielt den Behauptungen der Ludendorff einen 361-seitigen Materialienband von Max Hecker mit dem Titel „Schillers Tod und Bestattung“ sowie ein Gutachten des Direktors der Medizinischen Klinik Jena, Dr. med. Wolfgang Veil, entgegen: Danach war Schiller eines natürlichen Todes gestorben. Der Obduktionsbericht war sachlich und bestätigte den vorangegangenen langjährigen Krankheitsverlauf. Schillers Begräbnis, aufgrund einer rasch einsetzenden Verwesung des Leichnams eilig anberaumt, war eine Beisetzung „mit der ganzen Klasse“, was schlicht erster Klasse bedeutete. Das „Kassengewölbe“ war zur Nutzung durch Familien bestimmt, die durch Rang, Geburt oder Verdienste ausgezeichnet waren, aber keine eigene Grabstätte besaßen. Die nächtliche Bestattungszeremonie bedeutete ein besonderes Vorrecht, das normalerweise nur Ministern, wirklichen Räten oder dem Adel zustand. Goethe war zum Zeitpunkt von Schillers Tod erkrankt und bettlägerig. Voß war kein Freimaurer. Zur fraglichen Zeit ruhte die Weimarer Logenarbeit. Warum hätten Freimaurer, die friedliebendsten Menschen der Welt, überdies einen unbescholtenen Schriftsteller umbringen sollen?

Faktensammlungen und Argumentationen galten der Ludendorff und den ihr nahe stehenden Nazis gar nichts. Wozu hatte man denn die Macht ergriffen, wenn nicht, um geistigen Widerstand im Keim zu ersticken? Propagandaminister Goebbels verkündete: „Erörterungen über Schillers Tod sind verboten; alle Literatur darüber ist beschlagnahmt worden.“ Die Ludendorffschmiererei ging in die nächste Auflage. Im gleichen Zuge wurde der Freimaurerbund im Deutschen Reich aufgelöst.

Es darf nicht unerwähnt bleiben: 1826, als Schwabe einen Totenkopf fand, den er für Schillers Schädel hielt, war nicht zum ersten Mal im „Kassengewölbe“ gegraben worden. Sechsmal hatte der Totengräber Bielke seit 1805 Särge unter Ausquartierung ihrer Bewohner zerkleinert und beiseite geschafft, selbstredend auch den Schillerschen. Der von Schwabe gefundene, laienhaft vermessene, von Goethe besungene, in der herzoglichen Bibliothek vorgeführte und nebst anderen Knochen in die Gruft geschobene Schädel war nicht der von Schiller. Der Tübinger Anatom August von Froriep grub erst 1911–1913 am „Kassengewölbe“ den vermutlich echten Schillerschädel und die richtigen übrigen Knochen aus, die sich seit dem 9. März 1914 in der Fürstengruft befinden.

Mathilde Ludendorff, die eine von Hitler höchstpersönlich abgesegnete antihumanitäre und antisemitische Vereinigung ins Leben gerufen hatte, durfte auch nach 1945 bis zum Tod im hohen Alter ihre Schiller- und Goethe- Lügen verbreiten.

Ein Spruchkammerverfahren direkt nach dem Krieg stufte die Autorin als NS-„Aktivistin“ ein; die psychologische Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass Frau Ludendorff nicht geistesgestört sei. Auch heute besteht der „Bund für Gotterkenntnis“ (Postfach 1254, D-82324 Tutzing) am Starnberger See weiter fort. Der Wahnsinn ist noch immer nicht tot. Ein vermutlich echter Schiller dreht sich im Grabe um, dass die Knochen klappern.

TOM WOLF