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Archiv-Artikel

Ab in den Häuserkampf!

Die Gewerkschaften haben dem „Sozialdumping“ den Kampf angesagt. Das heißt: Sie demonstrieren – diesmal gegen sinkende Sozialstandards. Wie einfallslos! Sie könnten doch ganz anders

VON DETLEF GÜRTLER

Sehr geehrte Anhänger der Gewerkschaftsbewegung (schön erst mal, dass man bei euch noch immer die Plural-Anrede verwenden kann), ihr habt diese Woche endlich wieder einen klaren Sieg errungen. Beim EU-Gipfel in Brüssel haben Staats- und Regierungschefs das Wort „Sozialdumping“ nicht nur in den Mund genommen, sondern auch gleich die ganze Dienstleistungsrichtlinie mit so spitzen Fingern angefasst, dass sie von einem nach dem anderen fallen gelassen wurde.

Plötzlich waren sie alle für die Liberalisierung, aber gegen Sozialdumping, traten den Freiheitsfetischisten der EU-Kommission in die Weichteile und kuschelten sich eng an das französische Volk, das nämlich in zwei Monaten bestimmt nicht für die Europäische Verfassung stimmt, wenn es sich damit die Sozialdumper ins Land holt.

Die Gipfelpolitiker sind also argumentativ völlig auf eure Linie eingeschwenkt: Wenn jedes Unternehmen überall in der EU seine Dienste anbieten kann, und dabei nur den Vorschriften seines Herkunftslands unterworfen ist, würden sich die Firmen dorthin verlagern, wo Sozialstandards und damit die Lohnkosten am niedrigsten sind; dadurch werde ein Abwärtswettlauf der Sozialsysteme eingeleitet, und am Ende habe ganz Europa einen Lebensstandard auf litauischem Niveau. Nein, nicht mit euch, das werdet ihr verhindern!

Aber warum macht ihr das so wie ein französischer Bauernverband? Lasst euch so fantasievolle Aktionsformen wie eine Großdemonstration einfallen, um damit an die Politiker zu appellieren? Ist die Gewerkschaftsbewegung etwa groß geworden, indem sie an die Einsicht der Gegenseite, ob Regierung oder Unternehmer, appelliert hat? Ihr könnt doch auch anders. Erinnert euch an das kalte Lächeln, das ihr jedem Arbeitgeber schenkt, der mit dem Ausstieg aus Arbeitgeberverband und Tarifbindung droht: Dann kriegt er eben den Häuserkampf, muss jedes Jahr von neuem den Tarifkonflikt im Betrieb führen, und wird garantiert dabei materiell nicht besser fahren, als wenn er im Verband bliebe.

Macht doch so was. Jammert nicht darüber, dass die Politiker so gemein sind und die Unternehmer sowieso. Wenn die euch austricksen wollen, sucht euch das schwächste Glied in der gegnerischen Kette – und zerbrecht es. Setzt jedem Unternehmer die Pistole auf die Brust, der mit seiner Firmenzentrale nach Litauen auswandern will, nur weil dort der Kündigungsschutz schlechter ist. Und freut euch, klammheimlich versteht sich, über eine EU-Kommission, die den Dienstleistern den Anreiz bietet, soziale Standards abzusenken. Denn das wäre, erstmals seit Jahrzehnten, wieder eine große Aufgabe für die Gewerkschaftsbewegung! Eine, die Menschen mobilisieren kann, die konkrete Kampfziele benennen kann, bei denen es um mehr geht als ein halbes Prozent mehr oder weniger Lohn. „Schafft ein, zwei, viele Litauens!“ ist der Schlachtruf des europäischen Kapitals, und „Schafft ein, zwei, viele Deutschlands!“ wäre eurer.

Ihr hättet endlich einen Kristallisationskern für eine nicht nur mit Sprechblasen, sondern auch mit Inhalten gefüllte europäische Gewerkschaftsbewegung. Ihr würdet euch nicht damit profilieren, den ärmeren Ländern in der EU das Recht auf Wohlstand abzuerkennen, sondern, ganz im Gegenteil, Bedingungen zu schaffen, um auch ihnen den Weg zum Wohlstand zu bahnen. Wenn ihr dagegen, so wie jetzt, rein mit der Besitzstandswahrung im eigenen, noch immer reichen Land argumentiert, erleichtert ihr es euren Gegnern, euch als reaktionäre Egoisten hinzustellen – und das zu recht. Hey, ihr seid nicht reaktionär, ihr seid fortschrittlich. Und noch mal hey, ihr seid keine Egoisten, ihr seid solidarisch, verdammt noch mal.

Seid ihr es? Dann zeigt es uns! Eure Gewerkschaftsbewegung befindet sich seit langem auf einem äußerst abschüssigen Weg, weil eure traditionelle Klientel, die Facharbeiter in den Industriebetrieben, die Arbeiterelite von gestern, immer weiter zusammenschmilzt, und es euch nicht gelungen ist, die Arbeiterelite von heute für den Gewerkschaftsgedanken zu begeistern: die Systemprogrammierer, Projektmanager, Webdesigner und Genforscher.

Das Völkchen in solchen Berufsgruppen ist sich nicht nur einig in der Abneigung gegen euch – es sind auch alles, alles Dienstleister. Wenn ihr sie für euch begeistern wollt, dann hilft es keinen Zentimeter weiter, in Berlin oder Brüssel gegen Sozialdumping zu demonstrieren. Dann müsst ihr in den Häuserkampf, um unternehmerische Frechheiten von Branche zu Branche, von Betrieb zu Betrieb zu bekämpfen. Wer, wenn nicht ihr?