: Eine Konfession ohne Kathedralen
Neben Protestanten und Katholiken gibt es noch eine dritte mächtige Religionsgemeinschaft in Deutschland: konfessionslose Freidenker und Atheisten. Deren Verbände und Organisationen definieren sich zwar durch ihre strikte Ablehnung der traditionellen Kirchen, werden ihnen aber immer ähnlicher
VON PHILIPP GESSLER
„Ja, Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen! Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“
Heinrich Heine
Auch wenn die halbe Welt am Sonntag nach Rom schauen wird, um den Papst zu sehen, um zu beobachten, ob er überhaupt noch den Ostersegen schaffen wird – die eigentlichen Festwochen haben derzeit die Nichtgläubigen: Der Deutsche Freidenker-Verband (DFV) und der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) feiern derzeit die 100. Wiederkehr der Gründung der „Freidenker für Feuerbestattung“, auf die sich beide Verbände berufen. Dazu gesellt sich das Jubiläum der ersten Jugendweihen in der DDR am Sonntag vor 50 Jahren, wohin noch heute jährlich bis zu 100.000 Jugendliche pilgern. Und schließlich die vergangene Woche veröffentlichte Allensbach-Studie, wonach etwa 20 Prozent der Bundesbürger überzeugte Atheisten sind. „Mehr als 600.000 Menschen“, so jubelte der HVD über die von ihm bezahlte Studie, könnten sich „sogar eine Mitgliedschaft in unserem Verband vorstellen“.
Schätzungsweise ein Drittel der Deutschen ist konfessionslos oder atheistisch – aber schon diese Begriffe sind problematisch. Warum? Weil sie eine gesellschaftliche Entwicklung nur ex negativo definieren, eben konfessions-los und a-theistisch. Als seien Konfession und Glaube das Normale, das andere das Abweichende.
Ähnlich verhält es sich mit Umschreibungen wie „Nichtglaubende“, Kirchenkritiker oder Leute, denen „nichts heilig“ sei. Tatsächlich glauben viele Nichtglaubende an einiges (etwa an den Fortschritt oder die Humanität), ihnen ist manches heilig im Sinne von wertvoll, schützenswert, heilbringend – und allein durch ihre Kritik an den Kirchen definieren sie sich auch nicht.
Nun könnte den Gottlosen die Begriffsverwirrung einigermaßen egal sein, leben sie derzeit doch in scheinbar paradiesischen Zuständen: Seit der Wiedervereinigung hat die Bundesrepublik einen massiven Säkularisierungsschub erlebt. Plötzlich wurde die Gesellschaft durch die Integration von 18 Millionen DDR-Bürgern mit einem Schlag religionsloser oder -freier. Aufgrund ihrer marxistischen Tradition sah der Arbeiter-und-Bauernstaat Gläubige gleich welcher Couleur nicht gern, und diese Gängelei hatte Konsequenzen: Während im Westen Deutschlands etwa 15 Prozent der Bevölkerung nicht mehr christlich-kirchlich gebunden sind, sind es im Osten bis zu 75 Prozent.
Mauerfall als „Sündenfall“
Die Konfessionsfreien waren durch diesen Säkularisierungsschub nach dem Mauerfall plötzlich nicht mehr die Ausnahme oder die Außenseiter in Deutschland. „Es hat einige Zeit gedauert, bis sich die Konfessionslosen an den neuen Status gewöhnt hatten, plötzlich zu den drei großen ‚Konfessionen‘ (katholisch, evangelisch, konfessionslos) im Lande zu gehören“, schreibt Michael Schmidt-Salomon, Chefredakteur des vierjährlich erscheinenden Magazins MIZ. Dieses laut Untertitel „Politische Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen“ ist das wichtigste publizistische Standbein des „Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten e.V.“ (IBKA).
Doch von dieser Quasi-Ent-Göttlichung Deutschlands seit der Wiedervereinigung haben die Verbände der Konfessionsfreien bisher, zumindest zahlenmäßig, kaum profitiert. Trotz der Masse an Konfessionslosen in Deutschland: Der Dachverband Freier Weltanschauungsgemeinschaften e.V. dümpelt bei etwa 70.000 Mitgliedern herum, und diese Zahl ist noch wohlwollend gerechnet. Selbst innerhalb der Konfessionsfreien-Szene wird die Gesamtzahl der organisierten Nichtglaubenden auf nur etwa 50.000 geschätzt – Kirchen binden Millionen von Menschen.
Ein schönes Beispiel für die Not der Konfessionsfreien ist Berlin, wo der Himmel so leer ist wie in keiner anderen Metropole Deutschlands und nur 40 Prozent der Menschen einer Konfession angehören. Der US-Soziologe Peter L. Berger hat Berlin gar als „Welthauptstadt des Atheismus“ bezeichnet. Doch wichtigste Verband in der Konfessionsfreien-Szene, der HVD, zählt an der Spree nur etwa 1.000 Mitglieder. Das ist ziemlich wenig, wenn man bedenkt, dass in der Hauptstadt allein 2003 rund 1.700 evangelische Christen in die Kirche wiedereingetreten sind. Auch das öffentliche Interesse ist eher gering. Als der HVD-Landesverband 2002 zu seiner Jahrespressekonferenz einlud, verirrte sich gerade mal ein einziger Journalist in die Veranstaltung – und der war von der Katholischen Nachrichtenagentur KNA. Ist die Republik vielleicht doch religiöser, als es scheint?
Ein Grund für das Desinteresse an den Gottlosen mag sein, dass von kirchlich-theologischer Seite manchmal die Kirchen und der Glaube selbst so in ihrem Innersten in Frage gestellt werden, dass es solcher Verbände gar nicht mehr bedarf – ein Argument, das etwa Horst Groschopp, HVD-Bundesvorsitzender, in einer Aufsatzsammlung der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) andeutet. Theologen wie der Göttinger Neutestamentler Gerd Lüdemann sind dafür ein Beispiel. Er sagte sich öffentlich vom Christentum los, verlor seinen Lehrstuhl für „Neues Testament“ und war bei den Konfessionsfreien ein gern gesehener Gast. Wenn die Kirche solche Freunde hat, braucht sie keine Feinde mehr.
Eine weitere Erklärung für den Nichterfolg der Konfessionsfreien könnte darin liegen, dass sie nicht selten einer sozialistischen Begeisterung und DDR-Nostalgie frönen. So erklärt etwa Klaus Hartmann, Präsident der Weltunion der Freidenker und zugleich DFV-Bundesvorsitzender, dass die traditionsreichen Freidenker eine sozialistische Bewegung seien. Hartmann schimpft in einem Beitrag für die genannte EZW-Studie ziemlich zusammenhangslos gegen die „Nato-Aggression“ und die „Zerstörung Jugoslawiens“, ohne dass klar würde, wo jetzt der Bezug zum Freidenkertum zu finden wäre.
Kirchensteuer für Atheisten?
Es fehlt zudem in der Konfessionsfreien-Szene an einer klaren Linie, wie mit der neuen Freiheit und den Chancen nach der Wende umzugehen ist. So erheben beispielsweise einige dieser Verbände eine Art „Kirchensteuer“, während etwa der „Bund für Geistesfreiheit“ (bfg) dies logischerweise vehement ablehnt. Widersprüchlich auch, dass der bfg einerseits für die Abschaffung des Status einer „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ (KdöR) ist – von der Kirchen, jüdische Gemeinden und neuerdings auch die Zeugen Jehovas profitieren –, andererseits aber selbst eine KdöR ist und damit auch wirbt.
Der oder ein Hauptgrund aber dürfte sein, dass die Menschen sich generell wenig oder weniger binden wollen – sei es in Kirchen, sei es in ihren Pendants auf der Konfessionsfreien-Szene. „Wahrscheinlich hat es viel zu tun mit einer tiefen Reserviertheit vieler Menschen gegenüber weltanschaulichen Organisationen“, erklärt der EZW-Experte für diese Verbände, Andreas Fincke. „Ähnliches beobachtet man ja bei den Gewerkschaften oder bei den Parteien. Wenige Menschen sind derzeit bereit, sich da zu binden.“ Hinzu kommt bei den Konfessionsfreien, dass es ihnen meist leichter fällt zu beschreiben, wogegen sie sind (also etwa den Glauben an einen Gott da oben und die Kirchen hier unten), als wofür – und warum eigentlich. Da diffundiert vieles in schlecht humanistisches Blabla oder Gutmenschentum.
Mit der Zunahme der Säkularisation in den vergangenen 30 Jahren, so räumt Groschopp in seinem winzigen Büro in Berlin-Mitte ein, habe auch die Organisationsbereitschaft innerhalb der Konfessionsfreien-Szene abgenommen. Schuld daran war vor allem bis zu Wende unter Nichtreligiösen ein „Sektierertum im Westen und eine Verstaatlichung des Freidenkertums im Osten“. Vom Säkularisierungsschub nach 1989/90 habe auch sein HVD „nicht profitiert“, gibt er zu.
Erben des Humanismus
Aber sein Verband, so Groschopp, habe Erfolg mit dem Konzept des Angebots von Dienstleistungen, gekoppelt mit einer weltanschaulichen Orientierung. Dass manche dabei von einer „Kirche der Konfessionslosen“ reden, kann ihn nicht recht aufregen. Selbst den Begriff „humanistische Konfession“ benutzt er, „provokativ“, wie er betont. Ja, die Diskussion in der Konfessionsfreien-Szene sei seit ungefähr einem halben Jahr, ob man sich mehr in Richtung „humanistische Konfession“ entwickeln solle, was das Anbieten etwa von Namensfeiern zum Beginn des Lebens, Jugendfeiern mit Eintritt ins Erwachsenenalter und Patientenverfügungen am Ende der Erdentage einschlösse. Oder ob nicht womöglich, um ja nicht zu kirchlich zu werden, ein „Zentralrat der Konfessionslosen“ genügte.
Schon erwägt der HVD die Installation eines „humanistischen Beraters“ in der Bundeswehr, der „letzte Fragen“ wie die Militärseelsorger beantworten kann. Solche Berater gibt es schon in den Niederlanden. Dort haben die Konfessionsfreien auch schon eine Universität. Und sind als Konfession anerkannt. So scheinen sich die Gottlosen langsam zu etwas zu entwickeln, was sie eigentlich ablehnen: zu einer Art Kirche. Wie schrieb noch Friedrich Nietzsche in seiner „Götzen-Dämmerung“ (1889): „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“