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Archiv-Artikel

Vögel sind keine „Spatzenhirne“

Lange galten Vögel ausschließlich zu einfachen Instinkthandlungen fähig. Neurowissenschaftler um Professor Onur Güntürkün von der Ruhr-Uni Bochum zogen erst in diesem Jahrtausend einen Schlussstrich unter 100 Jahre falsche Annahmen

VON HOLGER ELFES

Der Mensch sieht sich gerne als Krone der Schöpfung, seinen Mitbewohnern auf dem Planeten haushoch überlegen. Um 1900 hatte der damals führende Neuro-Anatom Ludwig Edinger in Frankfurt postuliert, die Evolution des Gehirns sei linear verlaufen mit der Entwicklung des Menschen. Die Hirnregionen der einzelnen Wirbeltierklassen hätten sich im Laufe der Zeit eine nach der anderen entwickelt. Primitive Tiere wie Vögel verfügten seiner Auffassung nach nicht über äußere Hirnbereiche. Neuere Untersuchungen haben diese Auffassung längst als falsch entlarvt, aber das durch Edinger geprägte Vorurteil blieb erhalten.

Ein internationales Konsortium aus 29 Forschern, darunter der Bochumer Neurowissenschaftler Onur Güntürkün, hat darunter einen Schlussstrich gezogen und schlägt eine neue Namensgebung für die Hirnregionen der Vögel vor. Edinger hatte damals mit Hilfe damals modernster Technik hunderte Gehirne von vielen Spezies in Detail und in einer Vollkommenheit analysiert wie kein Zweiter. Auf dieser Grundlage entwarf er eine Theorie der Entwicklung des Wirbeltiergehirns, sowie eine Nomenklatur der Hirnstrukturen der Wirbeltiere – einschließlich des Menschen.

„Dieses gewaltige Werk beeinflusste unser gesamtes modernes Denken über die Hirnorganisation von Menschen und anderen Tieren“, erklärt Güntürkün. Nach wie vor ließen sich viele Namen der Neuroanatomie des Menschen auf diese Konzeption zurückführen.“ Edingers Auffassung war, dass mit dem Aufkommen immer neuer Wirbeltierklassen das Wirbeltiergehirn sich immer wieder um eine neue Hauptkomponente erweiterte. Dieser Vorgang ereignete sich bei jedem Übergang zu einer neuen Wirbeltierklasse, also von Fischen zu Amphibien, hin zu Reptilien, dann zu Vögeln und schließlich zu Säugetieren. „Man muss sich das vorstellen wie die Schalen einer Zwiebel: Primitive Wirbeltierklassen haben nur die frühen, tiefsten und primitivsten Hirnstrukturen, später dazu gekommene haben dann zusätzlich die nächste Erweiterung“, so Güntürkün. Nur Säugetieren und Menschen wären demnach im Besitz einer Hirnrinde. Vögel machten Edinger Probleme, da ihre Gehirne im Verhältnis zum Körper sehr groß waren, aber nach seiner Theorie keine Hirnrinde aufweisen durften. Deshalb interpretierte er ihre vorhandene Hirnrinde einfach als eine besonders stark entwickelte Vorstufe des so genannten Palliums. Das schlug sich in den Namen der Gehirnbereiche bei Vögeln nieder, die alle auf den Terminus -striatum enden – für unbewusst ablaufende, automatisierte Handlungsprozesse.

Vögel wären nach dieser Theorie aufgrund ihrer Hirnstruktur also ausschließlich zu einfachen Instinkthandlungen fähig. Erst in den 1960er Jahren kamen Zweifel an dieser Auffassung auf. Experimente zeigten, dass Tauben zwischen kubistischer und impressionistischer Malerei unterscheiden können, dass Krähen Werkzeuge herstellen und ihr Wissen an Artgenossen weitergeben können und dass Papageien Wörter von Menschen nicht nur nachplappern, sondern auch darüber mit ihnen kommunizieren können. „Man wurde sich mehr und mehr darüber klar, dass an Edingers Konzeption etwas nicht stimmen kann“, erklärt Güntürkün. Vier Tage lang diskutieren 2002 in England 29 Hirnforscher aus der ganzen Welt und sammelten dabei die Daten eines Jahrhunderts. „Es war ein Rausch!“, erinnert sich heute der Bochumer Forscher, „wir haben kaum geschlafen.“ Es entstand eine umfassende Arbeit, die eine neue Nomenklatura für Vögel einführt und Kollegen in anderen Spezialbereichen rät, einen ähnlichen Ansatz zu wagen. Denn die Evolution verläuft nicht, wie Edinger annahm, linear und der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung. Es gibt vielmehr verschiedene Zweige der Evolution, darunter auch den der Vögel.

In der neuen Namensgebung verzichten die Forscher auf Vorsilben wie „paleo-“ (ältestes), „archeo-“ (archaisch) und „neo-“ (neu). Sie schlagen vor, den alten Namen „Archistriatum“ für die äußere Hirnschicht der Vögel durch „Arcopallium“ zu ersetzen. „Es geht nicht an, dass wir uns in unserer Forschung weiterhin durch irreführende Namen behindern lassen“, erklärten jetzt die Wissenschaftler.