: Hat Gary Moore den Blues gestohlen?
Mit „Still Got The Blues“ hatte der britische Gitarrist Gary Moore 1990 einen Welthit. „Alles nur geklaut“, behauptet der deutsche Musiker Jürgen Winter. Schon 1974 will er den Ohrwurm komponiert haben, lange kämpfte er vor Gericht um Ruhm und Rechte. Für Gary Moore scheint es nun eng zu werden
AUS SINZIG UND BERLIN SASCHA TEGTMEIER
Sinzig liegt nicht am Mississippi, sondern am Rhein. Weit weg sind auch die Clubs von Chicago. Sehr weit weg von der rheinland-pfälzischen Kleinststadt südlich von Bonn, wo Jürgen Winter lebt. Der 53-Jährige mit der eigenwilligen Frisur hat wohl ein Stück Blues-Geschichte geschrieben – und es beinahe selbst nicht bemerkt.
Denn Jürgen Winter – der am liebsten „Judy“ genannt wird – behauptet, die Melodie von „Still Got The Blues“ geschrieben zu haben. Mit diesem Song hatte allerdings nicht Jürgen Winter, sondern der britische Gitarrist Gary Moore 1990 einen Welthit. „Der Gary hat den Riff von mir geklaut“, sagt Winter in seiner Sinziger Wohnung. Er sagt es unaufgeregt und lächelt. Jürgen Winter gibt Gitarren- und Bassunterricht. Von seiner, wie er selbst sagt, „wilden Zeit“ in den 70ern zeugen Poster von den Beatles und den Rolling Stones an den Wänden seiner eher bürgerlichen Wohnung. „Ja wirklich“, sagt er, „Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll“. Vor allem Whiskey und Cannabis.
Das eigene Lied „vergessen“
Wie zum Beweis seiner Autorenschaft nimmt er dann die Western-Gitarre seiner Tochter zur Hand, stellt einen Fuß samt Cowboy-Stiefel auf den braun gefliesten Wohnzimmertisch und spielt die kleine, traurige Melodie, zu der Moore mit rauer Stimme krächzte: „So long, it was so long ago, but I’ve still got the blues for you“.
Bei Winter ist die Melodie nur Teil eines 12-minütigen, psychedelischen Rocksongs namens „Nordrach“. Den hat er in den 70ern mit seiner Band Jud’s Gallery gespielt, auf Konzerten, und im Radio ist er auch gelaufen. Wie die „Moldau“ von Smetana sollte „Nordrach“ den Verlauf des kleinen Schwarzwaldflüsschens musikalisch wiedergeben, von der Quelle bis zur Mündung ins Meer. Ab Minute acht des Liedes – das Wasser verliert sich in den Weiten des Meeres – kommt dann dieser durchaus majestätische Gitarrenriff ins Spiel, der inzwischen zu einer Art Erkennungsmelodie von Gary Moore geworden ist. Es sind nur vier Takte mit Auftakt, um die Winter kämpft. Eingefallen ist ihm die Melodie 1974 „auf dem Weg zum Proberaum“. Aufgefallen ist ihm Moores mutmaßlicher Diebstahl erst 2000, als seine Frau Heidi „Still Got The Blues“ nachts in einer Fernsehwerbung hörte. „Ich hatte mein Lied einfach vergessen“, sagt Winter. Vor vier Jahren endlich hat Winter die Plattenfirma Virgin und ihren Künstler Gary Moore verklagt.
Winters Anwalt Manfred Steinheuer fordert in der Klage die Plattenfirma auf, den Song nicht mehr zu „vervielfältigen“, nicht mehr in den Verkehr zu bringen und fertige Produkte zu vernichten, die den Musiktitel enthalten.
Im Moment sieht es nicht schlecht aus für Winter. Anfang März hat sich die 21. Zivilkammer des Landgerichts München auf das letzte einer Reihe von musikwissenschaftlichen Gutachten berufen und sieht es als bewiesen an, „dass die Passage in Gary Moores ‚Still Got The Blues‘ in Anlehnung an das Stück ‚Nordrach‘ des Klägers entstand“.
Nun muss Virgin Records nachweisen, dass Gary Moore keine Gelegenheit hatte, den Song „Nordrach“ zu hören. Die Frist dafür läuft heute aus, doch der Anwalt von Virgin hat bereits angekündigt, eine Verlängerung beantragen zu wollen. Das bedeutet vor allem eines: Die Plattenfirma aus London nimmt die Klage aus Sinzig ernst.
Und dass Gary Moore „Nordrach“ keinesfalls gehört haben kann, wird er schwerlich beweisen können. Faktisch müsste er belegen können, dass er zwischen 1972 und 1974 nicht in Deutschland gewesen ist. „Ich weiß nicht genau, wie das gehen soll“, sagt Virgin-Anwältin Claudia Rossbach dazu.
Virgin und Gary Moore stecken erst so richtig in der Klemme, seit sich der heutige Musikjournalist Volkmar Kramarz bei Jürgen Winter gemeldet hat. Er könnte als Zeuge in dem Prozess auftreten und sagt: „Klar war Gary in Bonn! So sechs bis acht Wochen lang hat er dort in verschiedenen WGs gewohnt“. Unter anderem in einer Wohngemeinschaft mit Kramarz, der damals selbst Musik gemacht hat. Er hält es auch für wahrscheinlich, dass Moore den damaligen Musikclub „Underground“ besucht hat, in dem Jud’s Gallery mindestens einmal aufgetreten sind. Kramarz erinnert sich sogar daran, dass Moore damals mit der Melodie, die später zu „Still Got The Blues“ werden sollte, mehrere Wochen lang „herumspielte“.
Die Liste von Plagiaten im Pop ist schier endlos. Der wohl prominenteste Fall: „My Sweet Lord“ von George Harrison – oder eben von den Chiffons, an die der Ex-Beatle 1976 wegen zu großer Ähnlichkeiten alle Rechte abgeben musste. Strittig ist, ab wann ein harmloses musikalisches Zitat zum Diebstahl wird. In der Vergangenheit entschieden Gerichte, dass ungefähr drei bis sieben Takte der beiden Melodien identisch sein müssen. Überdies gibt es in Blues, Rock und Pop wiederkehrende Formeln, auf die niemand das Copyright hat. Wem gehört schon der Blues? Wem gehören Rock- und Pop-Elemente? Das Grundschema – zwölf Takte, drei Akkorde – ist nicht geschützt. Singt jemand „I’m A Man“ und stampft dabei auf den Boden, so wird eine alte Tradition fortgeführt, aber nichts Neues geschaffen.
Bei den Prozessen geht es meistens um viel Geld, und natürlich fordert Jürgen Winter ein Stück vom Kuchen. Allein in Deutschland hat sich Gary Moores Album mit dem Hit 600.000-mal verkauft, „Still Got The Blues“ lief damals wie heute häufig im Radio, wurde auf Kompilationen wie „Kuschelrock 4“ zweitverwertet und an die Werbung verkauft. Bisher hat sich Virgin geweigert, die Summe zu nennen, die der Hit eingespielt hat.
Aber Winter geht es auch um den Ruhm: „Ich möchte meinen Namen auf der CD lesen“, sagt er. Musik: Moore/Winter. Oder Winter/Moore, das sind Details. Immerhin, für den ehemaligen Thin-Lizzy-Gitarristen Gary Moore war „Still Got The Blues“ der Durchbruch als Solo-Künstler. Auch wenn Moore heute recht abgemeldet ist – Winters Leben wäre wohl anders verlaufen, wenn er damals auch nur einen Bruchteil des Erfolgs hätte einstreichen können.
Hätte ihm Gary Moore statt einer Melodie das Auto oder die Brieftasche geklaut, wäre es für Winter sicher leichter. Denn die Entscheidung über ein Plagiat steht und fällt mit den Gutachtern. Winters Fall zieht sich seit vier Jahren hin, weil unterschiedliche Gutachter zu gegensätzlichen Ergebnissen gekommen sind. Der letzte, vom Gericht bestimmte Gutachter, Hermann Rauhe, gestand Winters Song einen „hohen Grad von Individualität und Wiedererkennbarkeit“ zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein so hoher Übereinstimmungsgrad zwischen zwei Melodien auf Zufall beruhe, müsse als sehr gering eingeschätzt werden, schreibt Rauhe.
Schützenswerte Melodie?
Sollten Moore und Virgin – falls sie den Prozess verlieren – in Berufung gehen, werden wohl wieder neue Gutachter zu Rate gezogen. Virgin-Anwältin Claudia Rossbach hat Rauhes Gutachten ganz und gar nicht überzeugt. „Das ist eine ziemlich dünne Geschichte“, sagt sie. Der Gutachter habe „gewisse Dinge“ nicht objektiv gewürdigt.
Sie wird in der nächsten Instanz versuchen, Gutachter wie Wolfram Sauter vor Gericht zu holen. Sauter hatte für den Prozess bereits seine musikwissenschaftliche Meinung abgegeben: „Die Melodie von Winter ist musikalisch ganz weit weg von ‚Still got the Blues‘“, sagt er. Es mag auf den ersten Blick ähnlich erscheinen, aber „im Detail ist es nicht so“. Das eine sei „triolisch“, das andere laufe „gerade durch“, sagt Sauter. Zudem sei die Melodie nicht schützenswert, weil sie häufig in der Musikgeschichte vorkomme und „zum Repertoire sentimentaler Liebeslieder“ gehöre. Parallelen zu anderen Kompositionen wie „Ich liebe dich so wie du mich“ von Beethoven oder „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ erkennt zwar auch Rauhe, hält Winters Melodie trotzdem für eigenständig.
So kann sich der Streit noch in die Länge und durch alle Instanzen ziehen. Dabei würde Jürgen Winter die Sache lieber außergerichtlich regeln: „Der Gary soll sich einfach mal bei mir melden. Dann können wir darüber reden.“ Aber auf Kontaktversuche aus Sinzig hat der Gary bis heute nicht reagiert.