Her mit dem schönen Leben

Aus der linken Mythenwelt. Lebensgier und Authentizitätssehnsucht – warum der Begriff „Entfremdung“ wieder groß in Mode ist

VON ROBERT MISIK

In den Sechziger- und Siebzigerjahren lautete einer der hipsten Slogans der rebellischen Jugend: „Wir wollen alles!“ Darin kam schon zum Ausdruck, dass das Ziel der Revolte nicht ein bisschen mehr an Gerechtigkeit und Freiräumen ist, sondern eine radikale Umwälzung: die Veränderung des Lebens, die Menschwerdung der Menschen. Im Grunde genommen war „Leben“ schon immer das, worum es ging, ein Begriff von Würde, der soziale Absicherung wohl einbezog, sich aber längst nicht auf diese beschränkte. „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger“, hieß es schon in der „Internationalen“, der Hymne der linken Arbeiterparteien, die als Ziel formulierte: „alles zu werden“.

So ist gewiss erstaunlich, aber doch nur folgerichtig, dass Attac im Frühjahr 2003 die Bundesrepublik flächendeckend mit Plakaten überzog, auf denen gefordert wurde: „Her mit dem schönen Leben“. Der so kluge deutsche Poptheoretiker Diederich Diederichsen irrt daher in diesem Fall, wenn er in der taz erstaunt feststellt, früher hätte eine internationalistische Gruppierung doch eher altruistische Forderungen erhoben, das Leitmodell des Rebellen wäre das des Asketen gewesen, der sich für andere opfert, und nicht das des Hedonisten, der „alles“ fordert, das ganze „schöne Leben“. Doch so einfach ist das nicht. Tatsächlich berührt dieses komplizierte, aufeinander vielfach bezogene Verhältnis von asketischer Leidensfähigkeit und totalem Lebenshunger einen Kernbestand linker Mythologie, und das im Grunde seit den frühen Tagen von Karl Marx.

Mit dem Begriff der „Entfremdung“, vom jungen Marx einführt, ist das Thema angeschlagen: dass der Mensch selbst Verhältnisse produziert, die ihm nicht erlauben, sein Menschsein zu verwirklichen. Er produziert, indem er produziert, eine Welt, die ihm als fremde, feindliche Macht gegenübertritt: die Ding- und Sachenwelt.

Nun liegt dem noch eine Vorstellung von einem ursprünglichen, echten Menschtum zugrunde, von der sich Marx später selbst verabschiedet, indem er das Individuum als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ beschreibt. Wenn jede Subjektivität immer schon historisch-gesellschaftlich bestimmt ist, der „Mensch“ nicht abstrakt, jenseits von Kultur und Gesellschaft begreifbar ist, dann ist natürlich die Vorstellung eines menschlichen „Wesens“ und damit auch die der „Entfremdung“ von diesem nur schwer behauptbar. Dennoch: Die Gewissheit, alle Menschen könnten ein volles Leben verwirklichen, einen nicht näher bestimmten „inneren Reichtum“ entfalten, könnte als Grundlegung eines „hedonistischen“ Strangs linken Denkens begriffen werden.

Das asketische Ideal steht damit im Zusammenhang, ist gewissermaßen die Kehrseite der eingeforderten Lebensfülle. Denn die Menschen, die unter dem Kapitalismus leben und von ihm geprägt werden, können ihre Potenziale nicht einfach so verwirklichen – einerseits, weil die herrschende Machtordnung dies verhindert, andererseits aber auch, weil die Menschen, zu Krüppelwesen umformatiert, dazu gar nicht in der Lage sind. Sie müssen erst alle Kräfte anspannen, um die Verhältnisse umzuwälzen.

Doch das Verhältnis von asketischem Ideal und gutem Leben hat sich seit Marx, verstärkt aber seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr verschoben: War in der traditionellen Arbeiterbewegung – und erst recht in den kommunistischen Parteien – das asketische Ideal des proletarischen Militanten, der für die Revolution eintritt (nach der dann irgendwann das Thema des guten Lebens, des neuen Menschen auf die Tagesordnung kommt), dominierend, ja wurde in manchen Milieus der Linken die Askese schon als die Verwirklichung des echten Lebens genommen, so setzte nach und nach eine, zunächst fast nicht merkbare, Verschiebung ein. Die Militanten wollten auch schon gut leben und begannen Überlegungen anzustellen, ob es nicht Aufgabe der Revolutionäre wäre, in ihren Kampfformen die gute Gesellschaft bereits zu „antizipieren“. Es wurde ein großer Hit.

Es brach an die große Zeit der Kommunen, Selbsterfahrungsgruppen, der Sozialistischen Patientenkollektive („Aus der Krankheit eine Waffe machen“), der Kinderläden, Hausbesetzer und der Alternativbewegung, später die von Feminismus, Gender, sexueller Identität, Antirassismus und Autonomen. Für die linken Aktivisten – und für die Autoren linker Theorie – wurde nach und nach wichtiger, was das alles für sie persönlich, gewissermaßen für den eigenen Leib und die eigene Seele bedeute. Dies ist der Hintergrund dessen, was Diederich Diederichsen die „existenzialistische Wende“ nennt.

Diese hat längst eine eigene, mindestens vierzigjährige Geschichte, strahlte weit über den Kreis der Linken im engeren Sinn aus und ist auch von einer Gedankenwelt beeinflusst, die oft ganz und gar nicht der Linken zuzurechnen ist. Wird von konservativen und rechten Denkern „Sein“, „Gemeinschaft“, „Kultur“ in Stellung gebracht gegen die modernen Verkommenheiten wie „Gesellschaft“, „Zivilisation“ oder „Kommerz“, so stehen in der Terminologie der Linken Begriffe wie „Selbstverwirklichung“ und „wahres Leben“ Vorstellungsreihen von „Verdinglichung“, „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ und Ähnlichem antagonistisch gegenüber.

Vorstellungen und Träume vom „Eigentlichen“ entwickelten, in das Feld der Massenkultur diffundiert, eine mächtige Kraft. Die gesamte Geschichte von Rock und Pop ist nicht verstehbar ohne diese Sehnsucht nach Echtheit und, wie das bald hieß, Authentizität. Der Star, der über die Stränge schlägt, wurde in eine Position des Stellvertretend-Authentischen erhoben.

Im weiten Feld der linken Theorie und des emanzipatorischen Sentiments hatte diese authentizistische Wende vielerlei Folgen. Die Faszination, die die chinesische Kulturrevolution auf eine ganze Kohorte radikaler westlicher Jugendlicher ausübte, hat mit diesem Topos der permanenten Veränderung der Existenz zu tun. Der Glanz eines ländlichen Utopia, den Maos Bauernrevolution ebenso ausstrahlte, wie es die lateinamerikanischen Guerillabewegungen taten, hatte unerhörte Strahlkraft. Das echte Leben nimmt das falsche in die Zange, oder, um das mit Mao zu sagen, die Dörfer kreisen die Städte ein. Später reisten westeuropäische Intellektuelle zum Ernteeinsatz nach Nicaragua. An der Seite wortkarger und sonnengegerbter Campesinos sollte eine Wirklichkeit gefühlt werden, zu der verzärtelte Städter keinen Zugang mehr haben.

Der düstere Sound von der „totalitären“ ökonomisch-technischen Gleichschaltung in der westlichen Massenkultur, den niemand so eindringlich anschlug wie Herbert Marcuse, eine der Urgestalten der Kritischen Theorie, war so etwas wie ein Ohrwurm. Der Begriff der Bedürfnisse wurde vom engen Korsett der materiellen Subsistenzmittel befreit und erweitert: Die Wünsche nach geistiger Verwirklichung, kreativer Betätigung, sozialem Zusammenhalt und Geborgenheit wurden nun ebenso dem Bedürfnissystem zugerechnet wie Sehnsüchte aller Art. Die exilierte ungarische Philosophin Agnes Heller hat zur Theorie der Bedürfnissysteme damals erstaunliche Beiträge geliefert, die von unorthodoxen Linken im Westen verschlungen wurden.

„In der kapitalistischen Gesellschaft wird die Unmittelbarkeit unterdrückt“, formulierte Heller. Hellers wesentliche Pointe war, dass es radikale Bedürfnisse gebe, die innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse nicht gestillt und integriert werden können; und dass diese Bedürfnisse nicht auf einem metaphysischen Menschtum beruhen, sondern im Humus der aktuellen Verhältnisse selbst gedeihen. „Dieses Bewusstsein (die radikalen Bedürfnisse) bringt der Kapitalismus notwendigerweise hervor“, verkündete Heller. Der Kapitalismus löst alle traditionellen Bande zwischen den Menschen auf, und so ist der Individualismus die logische Ideologie dieses Zeitalters. Seine Versprechen sind mächtig: Autonomie, dass jeder seine Anlagen verwirklichen solle, dass jedem Respekt zustehe. Eine Paradoxie, aber eine explosive: „dass nämlich dieselbe Gesellschaft, die das Bedürfnissystem sowohl der herrschenden als auch der Arbeiterklasse … zu ‚Haben‘ reduziert und zur ‚Habsucht‘ homogenisiert, die dem entgegengesetzten ‚radikalen Bedürfnisse‘ hervorbringt, welche die kapitalistische Gesellschaft transzendieren“.

Es ist eine ironische, wenngleich aber gewiss nicht zufällige Volte der Geschichte, dass Theorien wie diese gerade in einer Ära entwickelt wurden, in der der Kapitalismus selbst sein Antlitz veränderte. Die Epoche der fordistischen Massenproduktion mit ihren standardisierten Produkten und Produzenten ging zu Ende. Heute fordert auch die Werbung: „Das Leben ändern“, und die Computerfirma Apple gebietet auf ihren Plakaten: „Denke anders“. Der Beschäftigte, der seine eigenen Ideen einbringt, voll Unternehmer- und auch Widerspruchsgeist, ist die paradigmatische Figur der neuen Firmenphilosophie. Die Verachtung aller Konventionen wurde zum Betriebsmodus der Reality-TV-Formate und zum Prinzip mancher pädagogischer Moden.

Die Autonomiewünsche und auch die rebellischen Impulse der Subjekte werden der neuen, digitalisierten kapitalistischen Realität nutzbar einverleibt. Das Leben wird verändert, aber anders, als von den emanzipatorischen Theorien ersehnt. Ja, ein neuer Mensch betrat die Bühne. Er verhält sich taktisch in allen Lebenslagen und scheint über alles aufgeklärt. Konformismus und Kritik greifen bruchlos ineinander. Mit bekennender Rücksichtslosigkeit verfolgt er seine Interessen, macht sich selbst zur Marke.

Man kann sagen, diese modernen Typen sind umso entfremdeter, je freier sie sind. Das radikal Entfremdete an ihnen ist, dass sie so gut funktionieren, dass so etwas wie eine manifest repressive Dimension kapitalistischer Herrschaft gar nicht mehr nötig ist. Die neuen Strukturen des digitalisierten Kapitalismus, mit seinem Künstlerethos („Selbstverwirklichung“) und flachen Hierarchien („Eigeninitiative“) dringen „in gewisser Hinsicht gerade aufgrund ihrer größeren Menschlichkeit tiefer in das Seelenleben der Menschen ein“, schreiben Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrer großen Studie über das, was sie den „neuen Geist des Kapitalismus“ nennen. Gleichzeitig wäre die Behauptung der „totalen Entfremdung“ natürlich eine höchst zynische Deutung. Denn die Freiheitsgewinne sind ja real. Wer das anders sieht, soll die Probe machen: Regelarbeit im klassischen Büro oder gar am Fließband oder Telearbeit in der New Economy – beides versucht, kein Vergleich.

Ohnehin würde totale Entfremdung bedeuten, dass das Gefühl von Entfremdung nicht mehr existiert. Doch das Gegenteil ist der Fall: Das Unbehagen, das sich in den rebellischen Gesten äußert, zeugt davon ebenso wie der Radical Chic, aber auch die Coolness, mit der manche einen „guten Job“ an den Nagel hängen, wenn er mit ihrer Auffassung von einer sinnvollen Tätigkeit nicht in Einklang zu bringen ist, oder die grassierenden Ausbruchsfantasien jeder Art. Gewiss nehmen die Subjekte ihren Wünschen gegenüber längst eine ironische Haltung ein, etwa von der Art, wie der Titel einer indes berühmt gewordenen René-Pollesch-Soap im Berliner Prater: „Die Falsche-Leben-Show“.

Gesucht werden, wie in den Pollesch-Stücken, „Gefühle, die irgendwer noch übrig hat. Gefühle […], die dein Leben deregulieren.“ Und so schreit einer der Pollesch-Textträger: „Ja, das will ich, DEREGULIERTE GEFÜHLE FÜHLEN!“

Gewiss ist es kein Zufall, dass bei einem Kongress unorthodoxer deutscher Linker unlängst eine Gruppe hervortrat, die die existenzialistische Wende buchstäblich schon im Namen trug. Der lautete nämlich: „Schöner Leben Göttingen.“

ROBERT MISIK, 39, lebt als taz-Autor in Wien. Sein neues Buch „Genial Dagegen. Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore“ ist vor kurzem im Berliner Aufbau-Verlag erschienen (200 Seiten, 17,90 Euro). Darin setzt er sich mit den neuesten Phänomenen des Rebellischen und des Radical Chic auseinander, von der No-Global-Bewegung bis zum Ruhm von Popcombos wie Wir sind Helden; einen ganzen Abschnitt widmet er der linken Mythenwelt, von Che bis zur RAF, von der Faszination der Gewalt bis zur Gier nach einem freien, wilden Leben. Hieraus stammt auch unser Abdruck