: Hunger nach Leben
Katja Eichbaum betreibt ein „ganz normales Café-Restaurant“, sagt sie selbst. Doch das „Sehnsucht“ in Tiergarten ist das erste Restaurant speziell für Essgestörte. Die Gastronomin kennt die Probleme ihrer KundInnen. Sie litt selbst 15 Jahre an Magersucht
VON JANA SITTNICK
Katja Eichbaum bekommt in den letzten Wochen sehr viel Post. Briefe von Mädchen und Frauen, die von ihrem Lokal gehört haben und sich ihr anvertrauen. Mädchen mit Essstörungen und mit traurigen Geschichten. Die 22-jährige Daniela aus Hamm schreibt, dass sie vor einigen Monaten noch 73 Kilo gewogen habe, bei einer Größe von 1,73 Metern. Als sie mit einer Weight-Watchers-Diät 8 Kilo verloren habe, bekam sie Komplimente von ihren Kollegen. Da wollte sie nicht mehr aufhören mit dem Schlankwerden. Sie aß erst eine Weile gar nichts mehr, später verdrückte sie Unmengen Essen und steckte sich anschließend den Finger in den Hals, um alles wieder auszubrechen.
Katja Eichbaum weiß, wie hart der Kampf um die „gute“ Figur ist, der harmlos beginnt und in der Katastrophe endet. Fünfzehn Jahre lang war sie selbst essgestört, litt an Mager- und Ess-Brech-Sucht.
Vor einigen Monaten hat Katja Eichbaum ein Restaurant für Essgestörte in Berlin-Tiergarten eröffnet. „Sehnsucht“ heißt das gemütliche Lokal in Gelb und Bordeauxrot. Auf der Toilette kleben runde Schilder, auf denen steht „Loslassen“, „Genießen“ und „Träumen“. Katja Eichbaums Restaurant ist ein erfüllter Traum. Und es ist das erste seiner Art in Deutschland.
Jeder frage sie, wie das geht, sagt sie lachend, Essen für Essgestörte, ob das nicht blöd sei. Klischees und Vorurteile bleiben in dieser Sache nicht aus. „Wir sind ein ganz normales Café-Restaurant, mit speisender Kundschaft und kleiner Gourmetküche“, sagt die Gastronomin. Es gibt Entenbrust auf Kartoffel-Kürbis-Gratin, Lammkarrée oder Lachsforellenfilet, Suppen, Salate und Frühstück. Oder Desserts mit bizarren Namen: „Seele“ heißt die Cappuccinocrème auf Biskuit, und „Gemischte Gefühle“ sind aus Rhabarbergratin mit Vanillesauce. Wer essen möchte, isst, wer nicht, der nicht.
„Die betroffenen Mädchen können sich ohne Zwang treffen, über ihr Problem reden und sich konfrontieren“, meint Katja Eichbaum. Sie redet schnell und mit Inbrunst. So, als fürchte sie, missverstanden zu werden. Sie spricht von „ihren Mädchen“ und vom Vertrauen, das kommt, wenn jemand „einfach nur da ist“. Eichbaum will nicht eindringen, sie will lieber kommen lassen. Und es scheint zu funktionieren: Bulimikerinnen kommen in das Café, reden miteinander, reden mit ihr. Das, so Eichbaum, sei schon mal ein guter Anfang.
Bei Essstörungen – Anorexie und Bulimie – geht es nicht um das Essen bzw. das Hungern an sich. Essen oder Nicht-Essen, schreibt die Therapeutin Bärbel Wardetzki, wird als Betäubungsmittel angewendet, um etwas anderes – verdrängte, negative Gefühle – nicht zu spüren. Meist liegt der Essstörung ein schwerer Mangel an Selbstliebe zugrunde, der sich in einem Kontrollgefühl und Perfektionsdrang am eigenen Körper ausdrückt.
Die Mädchen und jungen Frauen sind sich nicht „gut genug“ – zum Leben, zum Lieben – und wollen sich in einen vermeintlichen Idealzustand hungern, den sie tatsächlich nie erreichen. Oft sind sexueller Missbrauch in der Kindheit und das Gefühl totaler Ohnmacht ein ausschlaggebender Impuls. Kulturelle Einflüsse wie die Flut der Schönheitsbilder aus Film und Werbung, das androgyne Schlankheitsideal und der Trend zur perfekten, machbaren Fassade fördern die Krankheit.
Essstörungen sind psychosomatische Störungen und zählen in Deutschland offiziell erst seit 1980 zu den Suchterkrankungen. Die Dunkelziffer ist enorm hoch, da die Scham der Betroffenen und die falsche Einschätzung ihrer Umgebung eine Früherkennung blockieren. Um die Essstörung zu überwinden, reicht es nicht, sich „zusammenzureißen“. Oft ist professionelle Hilfe nötig, um an tiefer liegende seelische Wunden heranzukommen.
Bei Katja Eichbaum fing es an, als sie fünfzehn war. „Da konnte ich selbst entscheiden, meine Stullen wegzuschmeißen.“ Eichbaum aß nur einen Apfel am Tag. Sie nahm bis zu dreißig Abführtabletten täglich, um keine Nahrung in sich zu behalten. Erst mit dreißig machte sie eine Therapie. In der Rehabilitation kam sie an ihre „wunden Punkte“ heran, lernte sich neu kennen. Einmal schrieb sie Dinge auf ein Blatt Papier, von denen sie träumte. „Da war auch das Restaurant dabei.“
Katja Eichbaum ist nicht nur im Auftrag der Bulimie unterwegs. Sie ist auch Geschäftsfrau. Wenn in der Küche nicht genügend vorbereitet wurde für die nächste Schicht, dann pfeift sie die Verantwortlichen an. Im Sommer müsse das Terrassengeschäft gut laufen, meint sie, damit sich alles lohnt.
Es ist ein Risiko. Im letzten Sommer hat sie gemeinsam mit Freunden den Laden selbst umgebaut und in ihren Lieblingsfarben gestrichen. Einen Bankkredit bekam sie nicht. Es ist kein guter Zeitpunkt für Restauranteröffnungen. Ideal sei es doch nie, meint Eichbaum fast trotzig, irgendwann müsse man mal loslegen.
Vor kurzem gründete sie einen Verein zur Unterstützung essgestörter Mädchen, der denen helfen soll, die gerade aus der Therapie kommen und sich im normalen Leben neu zurechtfinden müssen: beim Gang aufs Sozial- und Wohnungsamt, beim Ausfüllen der Anträge, bei der Arbeitssuche. Sie arbeitet mit einem Coach vom Arbeitsamt zusammen, der den Mädchen zeigt, wie man Bewerbungen schreibt, und mit einer Ernährungsberaterin, die mit den Mädchen einkaufen geht und kocht.
Katja Eichbaum will nicht immer dabei sein. „Das soll ein Ding der Selbsthilfe werden, ich sehe mich da eher als Ansprechpartnerin.“ Sie hat für ihren Verein eine Wohnung in der Nähe des Restaurants gemietet – als Aufnahmestation, in der bis zu vier Personen Unterschlupf finden. Im April soll es losgehen mit dem nächsten Projekt.
Restaurant „Sehnsucht“, Dortmunder Straße 12, Tel. 3 99 52 66; Literatur zum Thema: Bärbel Wardetzki, „Weiblicher Narzissmus“, München 1991; Beratungsstelle: Dick und Dünn e. V., Tel.: 8 54 49 94, dick-und-duenn@freenet.de