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Archiv-Artikel

kleine schillerkunde (4) „Helles Gelächter endlich machte mir Luft“

Mit der Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ bereitet Friedrich Schiller den Weg für eine moderne Pathologie des Bösen

Im Herbst des Jahres 1785 schrieb Friedrich Schiller seine Erzählung „Verbrecher aus Infamie“. Sie trug den Untertitel „eine wahre Geschichte“ und stellte sich damit zunächst einmal selbst in die Tradition der damals recht beliebten Räubergeschichte: Im 18. Jahrhundert waren insbesondere in den absolutistischen Staaten ganze Bevölkerungsschichten in die Armut abgesunken, und in der Schilderung authentischer Kriminalfälle spiegelte sich ein nicht unwichtiger Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit.

Den Stoff für die Erzählung, die im Februar 1786 als Lückenfüller in der Zeitschrift Thalia erschien und 1792 in den „Kleineren prosaischen Schriften“ ihren endgültigen Titel „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ bekam, trug Schiller bereits eine Weile mit sich herum. Sein Lehrer Friedrich Abel hatte ihm Jahre zuvor von dem schwäbischen „outlaw“ Friedrich Schwan erzählt, der unter dramatischen Umständen auf die schiefe Bahn geraten war. Aus Friedrich Schwan wurde bei Schiller der erfolglose Gastwirt Christian Wolf, den die Natur mit einem wenig vorteilhaften Äußeren bedacht hat: „Eine kleine unscheinbare Figur, krauses Haar von einer unangenehmen Schwärze, eine platt gedrückte Nase und eine geschwollene Oberlippe, welche noch überdies durch den Schlag eines Pferdes aus ihrer Richtung gewichen war.“

Kein Wunder, dass „Hannchen“ nur Spott für ihn übrig hat, und auch die ökonomische Misserfolge anhalten: „Drückendes Gefühl des Mangels gesellte sich zu beleidigtem Stolze, Not und Eifersucht stürmen vereinigt auf seine Empfindlichkeit ein.“

Christian Wolf wird zum Wilddieb, landet bald zum ersten Mal im Gefängnis und wird schließlich als Wiederholungstäter zu drei Jahren Festungshaft verurteilt. In der Gemeinschaft von Mördern und anderen Schwerverbrechern verliert er seine letzten Bindungen an die bürgerliche Gesellschaft, und als er aus der Haft entlassen wird, ist er fest entschlossen, „Böses zu tun“. Es folgen ein Mord und schließlich die Mitgliedschaft in einer Bande von Gesetzlosen: „Ehemals hatte ich aus Notwendigkeit und Leichtsinn gesündigt, jetzt tat ich’s aus freier Wahl zu meinem Vergnügen.“

Spätestens nach diesem lakonischen Bekenntnis ist klar, dass Schiller mehr als nur eine bessere Räubergeschichte mit sozialkritischem Einschlag geschrieben hat – und sich darüber hinaus sogar gegen seine eigenen literarischen Überzeugungen stellt: Von seinem bekannten, in der Schrift „Über das Pathetische“ formulierten Anspruch, „dem Helden oder dem Leser die ganze volle Ladung des Leidens zu geben“, ist in „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ nichts zu spüren.

Stattdessen erklärt Schiller gleich zu Beginn, dass „der Held kalt werden muss wie der Leser, oder, was hier ebenso viel sagt, wir müssen mit ihm bekannt werden, eh er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern auch wollen sehen“. Genau darin und nicht in der vermeintlichen Authentizität liegt die eigentliche Spannung der Geschichte: in der „Leichenöffnung eines Laster“, wie der examinierte Mediziner Friedrich Schiller es formuliert.

Schließlich legt Christian Wolf als frühmoderner Heckenschütze sein Gewehr aus dem Hinterhalt auf sein (erstes) Opfer an und stellt sich vor, dass „die ganze Welt in meinem Flintenschuss läge und der Hass meines ganzen Lebens in die einzige Fingerspitze sich zusammendränge“. Kurz darauf erreicht die Pathologie des Bösen dann ihren Höhepunkt: „Lange stand ich sprachlos vor dem Toten, ein helles Gelächter endlich machte mir Luft.“

Kälter geht es nicht, zumindest erst einmal. Gut möglich, dass Friedrich Schiller mit seiner kleinen, bösartigen Erzählung den Weg frei gemacht hat für all die faszinierenden Serientäter und abgebrühten Killer, die heute, gut zweihundert Jahre später, die Kriminalliteratur bevölkern – und dort „aus freier Wahl“ und zum Vergnügen ihrer Leser und Leserinnen so richtig hemmungslos morden.

KOLJA MENSING