: Keine Heimat für das Alter
Hilfsangebote für ältere MigrantInnen sind im Ruhrgebiet selten, obwohl die erste Zuwanderergeneration jetzt ins Rentenalter kommt. Ein Modellprojekt in Gelsenkirchen will die Lücke schließen
VON MIRIAM BUNJES
Dass sie schon seit Tagen friert und gerne eine Decke mehr in ihrem Bett hätte, kann die alte türkische Frau ihrer Pflegerin erst klarmachen, als ihre Tochter am Wochenende zu Besuch kommt. Ihre Alzheimererkrankung hat sie in ihre Kindheit zurückgeführt – und damals konnte sie noch kein Deutsch. Dass sie es heute nicht mehr kann, ist im Pflegealltag der allermeisten Ruhrgebietsaltersheime ein ungelöstes Problem. „Alte und pflegebedürftige Migranten werden in unserem Pflegesystem schlicht und einfach vergessen“, sagt Bedia Torun. „Dass alte Menschen ihre einfachsten Bedürfnisse nicht kommunizieren können, weil niemand im Haus ihre Muttersprache versteht, ist ein Unding in einer Einwanderungsregion wie dem Ruhrgebiet.“
Bedia Toruns neue Arbeitsstelle – eine Beratungsstelle für demente MigrantInnen und ihre Familienangehörige in Gelsenkirchen – will diese Situation wenigstens ein bisschen verbessern. Das von der Stiftung Wohlfahrtspflege finanzierte, in Nordrhein-Westfalen einzigartige Modellprojekt macht in erster Linie eins: Ruhrgebietsweite Aufklärung über eine Krankheit, die vor allem im türkischen Kulturkreis mit einem Tabu belegt ist. „Viele Migranten aus der ersten Generation kennen die Krankheit überhaupt nicht“, sagt Bedia Torun. „Das Durchschnittsalter war in der Türkei lange Zeit so niedrig, dass die meisten Menschen das demenztypische Alter von über 65 Jahren gar nicht erst erreicht haben.“
Schon die ersten Anzeichen von Demenz würden von den Betroffenen und den Angehörigen oft schamhaft versteckt. „Sie fürchten, verrückt zu sein“, sagt Bedia Torun. „Und vor allem die älteren Männer kommen nicht damit klar, ihre Rolle als Familienpatriarchen nicht mehr erfüllen können.“
Bedia Torun organisiert Informationsveranstaltungen, hilft den Familien, Krankenkassenformulare auszufüllen – und versucht, wenn die Krankheit weiter fortgeschritten ist, ein passendes Pflegeangebot zu finden.
Eine fast unmögliche Aufgabe, denn außer einem deutsch-türkischem Altersheim im Duisburg gibt es nur einige ambulante Pflegedienste, die speziell auf die Bedürfnisse von MigrantInnen zugeschnittene Dienstleistungen anbieten. Demgegenüber stehen inzwischen rund 13.000 Zugewanderte über 55 Jahre. „Die Nachfrage nach interkulturellen Pflegeangeboten ist immens“, sagt Manfred Hielen vom Duisburger Institut für Sozial- und Kulturforschung. Sein Forschungsteam hat das Hilfenutzungsverhalten von alternden MigrantInnen in den Duisburger Stadtteilen Hochemmerich und Hochfeld untersucht. In der noch unveröffentlichten Studie kommen die Soziologen zu dem Ergebnis, dass die meisten MigrantInnen Pflegeangebote und Beratungsstellen nicht kennen und auch nicht wissen, wo und wie sie sich darüber informieren können. „Viele türkische Teestuben werden zu so etwas wie Tageseinrichtungen für alte Migranten“, sagt Hielen. „Bei unserer Forschungsarbeit dort wurden wir immer wieder nach Pflegeangeboten gefragt.“
Es fehle sowohl an Information als auch am Angebot, so das Fazit der Studie. Gute Altenpflege arbeite mit und an der Biographie ihrer KundInnen. „Alte pflegebedürftige Menschen brauchen eine Atmosphäre, in der sie sich wohl fühlen“, sagt Hielen. „Die erste Zuwanderergeneration hat den Biografiebruch Migration direkt erlebt. Sie sind in einem anderen Kulturkreis groß geworden und haben andere Bedürfnisse als Einheimische.“ Im Duisburger Altenheimprojekt ist die Küche dementsprechend wegen des hohen Anteils türkischer BewohnerInnen orientalisch, es gibt einen Gebetsraum und muttersprachliches Personal. „Ein solches Projekt darf keine Ausnahme bleiben“, sagt Manfred Hielen. „Pflegebedürftigkeit betrifft ab sofort im wachsendem Maße die zugewanderten Bürger.“
Bei Bedia Torun häufen sich indes die Anfragen nach Pflegeangeboten in der Türkei. „Demenzkranke brauchen muttersprachliches Pflegepersonal und die vertrauten Speisen“, sagt die Pädagogin. „Hier gibt es das kaum. In der Türkei allerdings sind dann die Angehörigen tausende Kilometer entfernt.“
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