: Eine gelebte Utopie
BAUEN MIT SOZIALEM ANSPRUCH Die Ausstellung „Kibbuz und Bauhaus“ in Dessau sieht keine architektonische Verbindungslinie zwischen den beiden Bauformen, sondern will eine geistige Verwandtschaft deutlich machen
VON RONALD BERG
„Dort wurden zuerst lauter Fehler in der Planung gemacht“, erinnerte sich Richard Kauffmann in den 1930er Jahren an die ersten Kibbuzim in Palästina. Der erste Kibbuz entstand 1910. Kibbuz, das meint eine bäuerliche Kollektivsiedlung ohne Privateigentum und mit basisdemokratischer Verwaltung. 280 davon gibt es in Israel heute. Aufgebaut wurden sie meist von aus Europa eingewanderten Juden, die in ihnen sozial-utopische und zionistische Ideen verwirklichen wollten. Kibbuz, das hieß gelebte Utopie eines besseren Lebens, besser als die überkommenen, patriarchalischen Strukturen im Schtetl und natürlich besser als die Bedrohungen durch Pogrome und später durch Deportationen.
Die Neusiedler beziehungsweise Kibbuznikim hatten sich zwar in europäischen Trainingszentren vorbereitet, mussten aber, einmal im Gelobten Land angekommen, noch vieles lernen. So zum Beispiel die Wohngebäude im Kibbuz so zu platzieren, dass sie nicht den Stallgerüchen ausgesetzt waren.
Richard Kauffmann kam 1920 aus Deutschland nach Palästina. Da war das Bauhaus gerade einmal ein Jahr alt und hatte noch nichts Gebautes vorzuweisen. Kauffmann brachte als Chefplaner die modernen Prinzipien des Bauen und Planes nach Palästina und entwarf hunderte Siedlungen und Kibbuzim, so viel wie kein anderer. In den dreißiger Jahren war die Moderne schon so etwas wie ein jüdischer Nationalstil im britischen Mandatsgebiet von Palästina geworden. Die damals entstandene Weiße Stadt von Tel Aviv gilt heute als Bauhausstadt.
Doch das sei pure Fiktion, meint Bauhaus-Direktor Philipp Oswalt. Jenseits des Mythos einer Bauhausarchitektur versucht die Stiftung Bauhaus in der Ausstellung „Kibbuz und Bauhaus“ deshalb eine andere, eine „geistige Verwandtschaft zwischen Kibbuz- und Bauhausidee“ deutlich zu machen. Diese „einmalige Synthese“ finde sich nicht im Formalen, sondern vielmehr in der praktischen Umsetzung des „sozialen Anspruchs des Neuen Bauens“, radikaler, als es in Europa je verwirklicht worden sei.
Tatsächlich sieht man jetzt im Dessauer Bauhausgebäude wenig vom sogenannten Bauhausstil. Der Hauptteil der Präsentation war bereits auf der Biennale in Venedig 2010 als offizieller Beitrag des Staates Israel zu sehen. Der damalige Titel „Kibbuz – eine Architektur ohne Vorläufer“ relativiert im Grunde die These vom Rekurs der Israelis auf das Bauhaus. Den Kuratoren von der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem ging es damals mehr um die Wechselwirkungen zwischen dem Sozialen und der Architektur, wobei das Bauhaus nicht eigens thematisiert wurde. In Dessau hat man den Biennale-Beitrag unverändert übernommen, Veränderungen waren von israelischer Seite nicht gestattet. Stattdessen wurden zwei weitere Teile hinzugefügt: zum einen ein biografischer, dargeboten in ausgelegten Fotoalben. Sieben Lebenswege von Architekten des Neuen Bauens werden hier dokumentiert, die beim Aufbau Israels eine Rolle spielten. Drei davon sind Bauhäusler. Zum anderen handelt es sich um eine Sammlung von Videointerviews, in denen Israelis aus ihren Erfahrungen mit dem Kibbuzleben erzählen. Palästinensische Stimmen wurden vom israelischen Kooperationspartner nicht erlaubt.
Der Hauptteil selbst erzählt anhand von Fototafeln und einigen kargen Möbelstücken die Geschichte von der baulichen Gestalt der Kibbuzim, von Planung, Struktur und Wandel. Eine Fotografie von 1935 zeigt exemplarisch den steten Wandel innerhalb der Anlagen: Um einen zentralen Platz stehen Zelte, Baracken und eines dieser weißen Gebäudekisten, die man im Allgemeinen mit der Moderne in Verbindung bringt. Tatsächlich gab es auch in der Planung der Kibbuzim unterschiedliche Ansätze – selbst innerhalb der modernistischen Auffassung. So setzte Arieh Sharon, der nach der Staatsgründung 1948 den Masterplan für die Siedlungsentwicklung in ganz Israel verantwortete, auf Wachstum der Anlagen aus kleinsten Einheiten nach dem Prinzip von Bienenwaben. Einen solch rationalen Ansatz hat Arieh Sharon wohl von seinem Lehrer, dem zweiten Bauhausdirektor Hannes Meyer, gelernt. Samuel Bickeles Ansatz, von der Ausstellung gleich daneben platziert, setzt eher auf die urbanen Visionen der Moderne und entwirft einen Kibbuz für 1.000 Einwohner, der in seinem orthogonalen Raster an den Chikagoer IIT-Hochschulcampus Mies van der Rohes erinnert, des dritten und letzten Bauhausdirektors. Grünplanungen sind übrigens fester Bestandteil der Kibbuzim, sowohl zur Verbesserung des Mikroklimas wie als Trennelemente zwischen den Funktionszonen in der Siedlung. Auch in der Durchgrünung könnte man ein Stück Moderne ausmachen, etwa das reformerische Erbe der Gartenstadtbewegung. Insgesamt spiegelt sich aber in der baulichen Entwicklung der Kibbuzim eine beständige „Normalisierung“ wider: Wohnräume werden zunehmend privater und um einst ausgegliederte Gemeinschaftseinrichtungen wie Bäder, Kochnischen etc. ergänzt. Kinder schlafen wieder im elterlichen Privatbereich, während sie anfänglich in Kinderhäusern als einer Art Kibbuz im Kibbuz lebten.
Schließlich werden sogar repräsentative Kulturbauten errichtet, wo anfangs einfach der Speisesaal als gesellschaftliches Zentrum auch für Theater, Tanz und Gemeindeversammlungen genutzt wurde. Zudem wandeln sich die wirtschaftliche Grundlage und die dazugehörigen Einrichtungen immer mehr von der Landwirtschaft zur Produktion, womit gleichzeitig die Mitbestimmung aller im Kibbuz sich auf einige Experten hin verengt.
So erzählt der israelische Teil der Schau eigentlich auch davon, was aus einer gelebten Utopie wurde. Je nach Anschauung wird man das Alternativmodell des Kibbuz als gescheitert oder aber als ungemein anpassungsfähig an die Bedingungen des kapitalistischen Marktes verstehen können.
■ Bauhaus Dessau, bis 13. Mai 2012. Begleitpublikation 8 Euro