Halb Haus, halb Park

FREILUFTBIBLIOTHEK In Magdeburg-Salbke wurde einem abgehängten Stadtteil mit Fassadenresten eines Westkaufhauses die Ortsmitte zurückgegeben

Da, wo sogar die Magdeburger ihre Stadt abgeschrieben haben, steht seit Mitte Juni ein architektonisches UFO

VON ROBERT SCHIMKE

Es gibt schönere Orte auf der Welt als Magdeburg-Salbke. Ein schmaler Streifen im Südosten der sachsen-anhaltischen Landeshauptstadt, von Wegzug, Leerstand und Arbeitslosigkeit geplagt, eingezwängt zwischen Gleisanlagen und Industriebrachen, der Zugang zur Elbe: verbaut.

Da, wo sogar die Magdeburger ihre Stadt abgeschrieben haben, steht seit Mitte Juni ein architektonisches UFO. Das Leipziger Architekturbüro Karo hat in der alten Ortsmitte des Vororts das „Lesezeichen Salbke“ errichtet, einen strahlendweißen Zwitter aus Gebäude und Park, ein Stadtmöbel, das von außen wie ein geschrumpftes Westkaufhaus aus den Siebzigerjahren aussieht und von innen an die Strandbäder erinnert, die in den letzten Jahren rund um die ehemaligen Tagebaue in Sachsen und Brandenburg entstanden sind.

Nur zwei Seiten der rund 500 Quadratmeter großen Grundfläche haben Wände, ein kurzes Dach spannt sich über einer kleinen Bühne auf, davor liegt eine kleine Grünfläche; in die mit Holzleisten verkleidete Innenseite des „Lesezeichens“ haben die Architekten ein Dutzend Vitrinen eingelassen.

Sie sind das Display für eine Freiluftbibliothek Marke schrumpfende Stadt: durchgehend geöffnet, ohne Bibliothekare, einen Leihschein braucht man nicht. Der lokale Bürgerverein stellt dort für jedermann zugänglich eine Auswahl jener 25.000 Bücher ein, die er in den letzten Jahren für seine Bürgerbibliothek eine Straßenecke weiter gesammelt hat.

Bürgerengagement, das sich nicht aus Überschuss an Zeit und Geld, sondern aus Mangel speist: Bis Mitte der Achtzigerjahre gab es auf dem Grundstück des „Lesezeichens“ eine reguläre Stadtteilbibliothek. Sie brannte ab, wieder aufgebaut wurde sie bis heute nicht. Die Zeichen, dass das irgendwann nachgeholt werden könnte, stehen im klammen Magdeburg heute womöglich schlechter als vor 25 Jahren.

Das verschwundene Gebäude war der Bezugspunkt für die Architekten, als sie vor vier Jahren 1.000 Bierkisten zu einem Vorläufer des „Lesezeichens“ auftürmten. „Stadt auf Probe“ heißt das Prinzip, bei dem es eher darum geht, lokale Netzwerke zu versinnbildlichen, als funktionsfixierte, klar definierte Bauten zu errichten.

Die Bierkisten kamen von einem Getränkehändler im Viertel, Salbker Bürger bauten mit und entwickelten Ideen für eine neue Ortsmitte, erst kürzlich durften Sprayer aus dem Kiez ganz legal ihre Tags am Betonsockel hinterlassen – der Architekt als Sozialarbeiter.

Dem Bundesbauministerium war die Idee eines gebauten Zeichens für das Salbker Sozialgefüge eine Förderung wert, es finanziert den Bau im Rahmen eines Forschungsprojekts für familien- und altengerechten Stadtumbau. Und der Entwurf zum „Lesezeichen“ wurde auf der Architektur-Biennale in Venedig und in der Berliner Aedes-Galerie gezeigt.

Was nicht zuletzt am emblematischen Charakter des Baus liegen dürfte: An seinen Außenseiten hängen Siebzigerjahre-Aluminiumwaben, die nach dem Abriss eines alten Horten-Kaufhauses in Hamm/Westfalen übrig geblieben waren. Da, wo die vertrauten Fassaden der Salbker Industriegründerzeit und des DDR-Schwermaschinenbaus keinen Halt mehr geben, werden die mit Ideen von Recycling, Architekturretropop und Wohlstandsnostalgie aufgeladenen Aluwaben ein identitätsstiftendes Symbol für bürgerschaftliches Engagement in Zeiten der Strukturschwäche.

Und es stellt sich heraus, dass die „Normalbürger“ aus dem Stadtteil, die Krise und Verfall seit zwei Jahrzehnten als Bezugsgrößen ihres Alltags wahrnehmen und längst nicht mehr auf blühende Landschaften warten, sehr offen mit dem Griff in die Zeichenkiste des experimentellen Städtebaus umgehen. Die Bürgerbibliothekare von Salbke bauen regelmäßig einen Buchstand bei der Magdeburger Tafel auf, mit sich führen sie als Corporate Design eine der Aluwaben.

Bleibt die Frage, was das „Lesezeichen“ ist: ein soziales Experiment, das testet, wann die ersten eingeschmissenen oder zugesprayten Scheiben die Freiluftbibliothek zum Kippen bringen oder ein Spiel mit der kommunalen Daseinsvorsorge?

Die Bürgerbibliothekare, die ihre Ausleihe für lau und mit niedrigeren Standards als eine städtische Ausleihe organisieren, werden unfreiwillig vom (Schrumpfungs-)Opfer zum (Prekarisierungs-)Täter: Ihre Initiative verleitete die Stadtverwaltung unlängst zu dem unmoralischen Angebot, den Ehrenamtlichen reguläre Bibliotheksfilialen anzuvertrauen.