: Erasmus ist auf dem sozialen Auge blind
Wachsende Ungleichheit zwischen von Haus aus armen und reichen Studenten hemmt den Studentenaustausch. Nur ein Prozent der Studis reist auf Erasmus-Ticket. Deshalb sollen die einen auf Stipendien verzichten, damit andere mehr bekommen, schlägt das Hochschulnetzwerk Campus Europae vor
AUS LUXEMBURG ANNA LEHMANN
Erasmus beeindruckt zunächst. Über eine Million Studierende haben seit der Geburtsstunde 1987 an dem europäischen Austauschprogramm teilgenommen. Doch unter all ihren Kommilitonen, die an den Partner-Universitäten eingeschrieben sind, machen Erasmus-Studenten gerade mal ein Prozent aus.
Erasmus sei wenig effizient und sozial blind, kritisiert deshalb Christoph Ehmann von Campus Europae, einem Netzwerk von 14 europäischen Hochschulen, die ihre Curricula so aufeinander abstimmen, dass vier Auslandssemester Pflicht sind. „Wir wollen Erasmus nicht abschaffen, aber ergänzen“, sagt der Campus-Europae-Chef.
Als Ort für Kritik und Reformvorschläge am großen Bruder haben die Netzwerker am Montag den idyllisch gelegenen Verwaltungssitz, das Château de Munsbach in Luxemburg, auserkoren. Das kleine Großherzogtum hat immer darauf gesetzt, dass seine Studierenden im Ausland freundlich aufgenommen werden. Kein Wunder also, dass es gerade für fünf Jahre die Finanzierung von Campus Europae übernommen hat.
Mit der Finanzierung von Erasmus ist es indessen schlecht bestellt. Das weiß auch die Europäische Kommission, die die Fäden in der Hand hält. Sie hat vorgeschlagen, das Budget zu verdreifachen, um mehr Studierende zu Bildungsreisen anzuregen. Aus dem Etat von gegenwärtig 187,5 Millionen Euro erhält unterschiedslos jeder Erasmus-Student ein schmales Stipendium, mit dem die Mehrkosten des Auslandsaufenthalts ausgeglichen werden sollen. Ein unbürokratisches und einfaches Prinzip.
Zu einfach, wie Campus-Europae-Chef Ehmann findet: „Wir müssen das Geld anders verteilen und regionale und soziale Komponenten mit einbeziehen“, fordert er. Denn das Stipendium reiche nicht, um wirklich Bedürftigen zu helfen, und sei verschenkt für solche, die es eigentlich nicht nötig hätten.
Argumentativen Beistand leistet ihm Klaus Schnitzer vom Hochschulinformationssystem. Ein Viertel der deutschen Studenten aus höheren Einkommensschichten, aber nur 14 Prozent aus den unteren Kasten gingen ins Ausland. „Die finanzielle Kluft zwischen Studierenden aus reichen und armen Elternhäusern vergrößert sich überall in Europa und hemmt Mobilität“, konstatiert Schnitzer.
Campus Europae schlägt deshalb vor, das Geld nach einem eigenen Schlüssel umzuverteilen. Der besagt etwa, dass Studenten aus Riga pro Monat 88 Euro zusätzlich brauchen, wenn sie an der Uni Greifswald studieren. Greifswalder Studenten würden dagegen nichts bekommen. Aufgrund dieser Umverteilung könnte nach Berechnungen von Campus Europae die gleiche Anzahl von Studenten mit einem Drittel der Kosten unterstützt werden. Das restliche Geld soll in die soziale Absicherung der Studenten im Gastland fließen.
Einen Haken gibt es jedoch: den Betrag, den die Studenten im Heimatland für ihr Studium ausgeben, sollen sie auch weiterhin zahlen. Das bedeutet, dass im Ausland vor allem die Eltern in die Tasche greifen müssen – und damit ist arm dran, wer arme Eltern hat. Das Problem will Campus Europae lösen, indem Studenten Möglichkeiten angeboten werden, auch im Gastland zu jobben.
Noch klingt vieles visionär, doch eine erste Feuerprobe hat das Netzwerk schon bestanden. Im Wintersemester haben Studenten der Europäischen Humanistischen Universität in Minsk, die auf Befehl von Staatschef Alexander Lukaschenko geschlossen wurde, Asyl auf dem Campus Europae bekommen. Drei von ihnen studieren in Greifswald und bekommen dafür ein Stipendium von der Uni.