OFF-KINO : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
In Frederick Wisemans Dokumentation über das Ballett der Pariser Oper, „La Danse“ (2009) fällt einmal ein Zitat des Choreografen Maurice Béjart: „Ein Tänzer ist eine Kreuzung aus einer Nonne und einem Boxer.“ Auf meine Frage, ob er, der zwischenzeitlich mit „Boxing Gym“ (2010) auch einen Film über Boxer gedreht hatte, folglich Gemeinsamkeiten gefunden habe, antwortete der Regisseur im Interview: „Sowohl Tänzer als auch Boxer müssen die totale Kontrolle über ihren Körper haben. In gewisser Weise ist auch ‚Boxing Gym‘ ein Tanzfilm.“ Da jetzt auch „Boxing Gym“ im Rahmen der Reihe „Unknown Pleasures“ mit Filmen amerikanischer Independents endlich in Berlin im Kino läuft, lässt sich erkennen, was Wiseman meinte: Anderthalb Stunden sieht seine Kamera unkommentiert Menschen in einer Halle in Austin, Texas beim harten Boxtraining zu: Hüpfen, Schlagen, Ducken, Stemmen, Tänzeln. Weiße, Schwarze und Latinos (fast) aller Altersstufen: Sie alle haben Freude an der Bewegung und der Kontrolle darüber. Und wie immer in Wisemans Filmen erkennt man, wie diese spezielle Institution funktioniert und wie die beteiligten Menschen in ihren Handlungen davon geprägt werden. In einer Hinsicht jedoch scheint „Boxing Gym“ gerade das Gegenteil von „La Danse“ zu sein: Porträtierte der Tanzfilm die Institution des Opernballetts als eher rigide Klassengesellschaft, so steht in „Boxing Gym“ die Idee des Melting Pots im Mittelpunkt. Ein für Wiseman eher optimistischer Ausblick – spielt bei ihm doch auch immer der Gedanke eine Rolle, dass die Institution jene Gesellschaft repräsentiert, in der sie existiert. (OF, 11. 1., Babylon Mitte)
Stilistisch völlig andere Dokumentationen dreht Werner Herzog: In seinen Filmen ist der Regisseur immer auch selbst präsent, erzählend, erklärend und interpretierend. Mit „Die Höhle der vergessenen Träume“ begibt sich Herzog in eine Zeit zurück, in der menschliche Zivilisation und Kunst entstanden: Auf ein Alter von 32.000 Jahren schätzt man die ältesten zurzeit bekannten Höhlenmalereien in der Chauvet-Höhle in Südfrankreich, die damit aus der Alt-Steinzeit datieren. Die Aufnahmen vom Höhleninneren sind spektakulär, die Malereien der Pferde, Wollnashörner, Bisons, Löwen und Mammuts in 3-D so lebendig und plastisch, wie man sie sich nur vorstellen kann. Sinn und Zweck der Höhle und ihrer Malereien sind den Forschern allerdings unklar, eine spirituelle Bedeutung erscheint immerhin wahrscheinlich. Für Herzog, von dem man ja sowieso keinen faktenreichen Kulturfilm erwartet, ist diese Unbestimmtheit ein Segen: Unbekümmert, aber nicht unseriös assoziiert und staunt er drauflos, kommt dabei von Steinzeitmalern und ihren im Fackelschein tanzenden Bildern zu Fred Astaire, der mit seinem Schatten tanzt. „Es ist, als ob hier die Seele des modernen Menschen entstanden ist“, verkündet der Regisseur, der stets die Verbindung zur Gegenwart sucht und in den Steinzeitkünstlern den modernen Menschen findet. (5.–8. 1., 10.–11. 1., Filmkunst 66, 7.–8. 1., Babylon Mitte, 8. 1., Eva) LARS PENNING