Die man nie wirklich kennt

WERKSCHAU Die Eigensinnige – das Arsenal-Kino zeigt ab Samstag Filme mit und von Sandrine Bonnaire

Bonnaire kam als siebtes Kind einer 11-köpfigen Geschwisterschar zur Welt, die Eltern waren einfache Arbeiter und lebten in einer Vorstadt von Clermont-Ferrand

VON BARBARA SCHWEIZERHOF

Man versteht diesen Monsieur Hire nur allzu gut: Wie er wieder und wieder seinen Brahms auflegt und dazu aus dem Fenster schaut, hinein in die Wohnung gegenüber, wo Sandrine Bonnaire als Alice ihren alltäglichen Verrichtungen nachgeht. Wo es sonst Voyeure schwer haben, die Sympathien des Zuschauers auf sich zu ziehen, hat die Titelfigur aus Patrice Lecontes Film „Monsieur Hire“ leichtes Spiel. Das Objekt seiner schüchternen Begierde nämlich besitzt eine geradezu geheimnisvolle Anziehungskraft, die es schwierig macht, sich von ihrem Anblick loszureißen. Völlig im Einklang mit Hire steht man so als Zuschauer am Fenster und beobachtet Sandrine Bonnaire, wie sie sich vor dem Spiegel zurechtmacht, wie sie sich an- und auszieht, wie sie am Tisch Suppe löffelt, wie sie im Bett liest oder wie sie einen Apfel isst.

Bei alledem tritt Bonnaires Alice, deren Körperkurven nicht gerade ausgeprägt sind, nie betont sexy oder verrucht auf, sie ist kein Pin-up-Girl, nein, die Faszination liegt gerade in ihrer Gewöhnlichkeit, in einer Einfachheit, die manchmal ans Vulgäre grenzt.

Und dann gibt es da noch diese Blicke aus den dunklen Augen, die manchmal wie Scheinwerfer aus der Tiefe ihr Gesicht aufleuchten lassen und dann wieder mit ihrer Bestimmtheit fast erschrecken – weil man merkt, dass diese scheinbar arglose junge Frau etwas vorhat. Nur was, das weiß man nie so genau. Auch Monsieur Hire wird es erst wissen, als es zu spät ist.

Lecontes Film aus dem Jahr 1989 wird zwar leider in der Werkschau, die das Berliner Arsenal zum Schaffen von Sandrine Bonnaire jetzt präsentiert, nicht gezeigt. Aber die von Monsieur Hire erlebte Kurve der Wahrnehmung zieht sich als spezielles Bonnaire-Erlebnis durch ihre gesamte Filmografie. Man unterschätzt sie oft zu Beginn, nur um am Ende umso überwältigter zu sein.

Wieder und wieder, von ihrem Debütauftritt als 16-Jährige in Maurice Pialats „À nos amours“ (1983) an bis hin zu einem Film wie „Die Schachspielerin“ (2009) lässt sich die Entwicklung ihrer Leinwandfigur in etwa so beschreiben: Zuerst nimmt ihre Natürlichkeit für sich ein, dann fesselt die Entdeckung einer großen Komplexität dahinter und schließlich ist man völlig in den Bann geschlagen von der inneren Kraft dieser Frau.

Ungeschliffen, urwüchsig

Diese ganz eigene Art sich durchzusetzen mag mit autobiografischer Erfahrung zusammenhängen. Bonnaire ist als Teil einer großen Familie aufgewachsen. Sie kam als siebtes Kind einer 11-köpfigen Geschwisterschar zur Welt. Die Eltern waren einfache Arbeiter und lebten in einer Vorstadt von Clermont-Ferrand. Ihre ersten Rollen nutzten entsprechend gerade das Urwüchsige, Ungeschliffene, Nichtakademische, das Bonnaire durch Herkunft und Gestalt sozusagen naturgemäß verkörperte. Im bereits erwähnten „À nos amours“ hinterließ sie als rebellischer Teenager, der einigermaßen rücksichtslos den eigenen Körper zur Welt- und Sexerfahrung nutzt, so großen Eindruck, dass sie augenblicklich mit einem César als beste Nachwuchsschauspielerin geehrt wurde. In Agnès Vardas „Sans toit ni loi“ (deutsch: „Vogelfrei“, 1984) spielte sie eine Landstreicherin im eigentlichen Sinn des Wortes: Der Film beginnt mit dem Fund ihrer verwahrlosten, erfrorenen Leiche und verfolgt dann in Flashbacks die Begegnungen verschiedener Menschen mit der offenbar freiwillig in die Obdachlosigkeit Gegangenen in den Monaten zuvor. Es stellt sich heraus, dass niemand sie wirklich kennen lernte, ihr „ordentliches“ Vorleben bleibt im Dunkeln, genauso wie die Motive, die sie auf die Straße getrieben haben.

Und trotzdem gibt es da diese negative Power, die sich mehr und mehr zu entfalten scheint und die diese Figur dazu antreibt, immer weiter zu gehen im Abschneiden der sozialen Bande, sie wird im gleichem Maße unkommunikativer wie unmoralischer wie ungepflegter. Vardas Film ragt auch noch heute heraus, weil er auf simples Psychologisieren und die oft übliche Anklage der Verhältnisse verzichtet und dennoch in seiner Rätsel- und Befragungsstruktur eine präzise gesellschaftliche Analyse bietet. Bonnaire erhielt für ihre so durchschlagende wie bedrückende Darstellung 1986 ihren – bislang einzigen – César als beste Darstellerin.

Dass man sie nie wirklich kennt, trifft als Beschreibung auf viele ihrer eindrücklichsten Figuren zu. Die dabei nie dem Klischee der „schönen Unbekannten“ entsprechen, dazu ist Bonnaires Erscheinung zu apart, zu eigen. Ein Charakterzug, der sich übrigens auch in ihrer ersten Regiearbeit „Elle s’appelle Sabine“, einem Dokumentarfilm über ihre autistische Schwester, zeigt. Man beachte, wie Bonnaire es darin gelingt, von der eigenen Familie zu erzählen, ohne dabei privat oder indiskret zu werden. Ob vor oder hinter der Kamera, Bonnaire bietet dem Zuschauer Stoff für ein nie zu erschöpfendes Nachdenken und Ergründen. Anders gesagt: Man kann sich an ihr kaum sattsehen.

Programm: www.arsenal-berlin.de/kino-arsenal