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Archiv-Artikel

Schulen kommen auf den Hund

BILDUNG An der Schilling-Schule in Neukölln unterrichtet auch ein sechsjähriger Pudelmischling. Die Kinder lernen durch den Umgang mit dem Therapiehund Sozialverhalten. Das fördert das Lernen

„Neurowissenschaftlich ist nachgewiesen, dass ein Hund zu besserer Lernatmosphäre beitragen kann“

ANDREA BEETZ, DIPLOM-PSYCHOLOGIN

VON JULIA KOHL

Hanna ist grauhaarig und geht doch noch zur Schule. In der Neuköllner Schilling-Schule, einem Förderzentrum für Sprach- und Körperbehinderte, besucht die Sechsjährige den normalen Unterricht, die Leseförderung und die Hunde-AG. Hanna ist selbst ein Hund – ein Pudelmischling, um genau zu sein.

Zweimal in der Woche dürfen sechs Kinder aus verschiedenen Klassen zur Hunde-AG. Manche brauchen Übung in Sprach- und Denkaufgaben oder sollen durch die Arbeit mit dem Hund soziales und teamgerechtes Verhalten lernen. Andere werden für eine besonders gute Leistung belohnt.

Mehmet, Mischiko und Miguel sind seit Beginn des Schuljahres in der AG. Sie liegen nebeneinander auf dem Boden, die Augen geschlossen und die Köpfe in den Armen vergraben. „Und hopp“, ruft Bastian, der ein Käsestückchen in der Hand hält. Mit einem weiten Sprung hüpft die Hündin über die drei Kinderrücken hinweg. Die achtjährige Mischiko kichert, weil Hanna sie kurz am Bein gestreift hat. „Das ist eine Vertrauensübung“, erklärt Melitta Herberger, „dadurch wird das Gruppengefühl und das Selbstbewusstsein der Kinder gestärkt.“ Die Sozialarbeiterin und Therapiehundeführerin arbeitet seit anderthalb Jahren mit Hanna an der Schilling-Schule.

Der Pudelmischling ist Herbergers zweiter Hund, die 39-Jährige hat ihn speziell für die Arbeit mit Kindern ausgesucht. Nach ihrer Diplomarbeit über die positive Wirkung von Tieren auf Kinder im emotionalen, sozialen und kognitiven Bereich hat sie sich entschlossen, „tiergestützt“ zu arbeiten. Hannas Therapiehundeausbildung an einer Berliner Hundeschule umfasste einen Eignungstest, einen tierärztlichen Gesundheitsscheck und drei Wochenendseminare, am Ende gab es drei Prüfungen in Theorie und Praxis. Das Ganze dauerte ein Jahr und kostete gut 2.000 Euro. Bezahlt werde sie für die Zusatzqualifikation nicht, sagt Herberger, die an der Schilling-Schule eine Dreiviertelstelle als Erzieherin inne hat. „Die Arbeit mit dem Hund läuft unter persönlichem Engagement. Da muss man aufpassen, sich und den Hund nicht auzubeuten.“

Der Tierschutz müsse ganz oben stehen, findet die Sozialarbeiterin. Deshalb achte sie sehr auf Hannas Freizeitausgleich mit dem Hundesport „Agility“. Auch die Körpersprache des Tiers bei der Arbeit müsse beachtet werden: „Wird der Stress zu groß, fängt Hanna an, sich zu kratzen oder die Nase zu lecken – dann nehme ich sie auch mal aus dem Zimmer. Dort hat sie außerdem eine Ruheecke, in der die Kinder sie nicht stören dürfen.“ Hanna sei aber ein richtiges Arbeitstier, erzählt Herberger. „Es ist sehr schlimm für sie, wenn sie nicht mit in die Schule darf.“

Auf der Internetseite schulhundweb.de, einem deutschlandweiten Portal rund um tiergestützte Pädagogik, hat Melitta Herberger einen Berliner Arbeitskreis ins Leben gerufen, der sich regelmäßig trifft. Vier Berliner Schulen mit Therapiehunden haben sich auf der Website registriert. Herberger schätzt aber, dass in der Stadt zehn bis zwölf Schulen mit Hunden arbeiten. Oft handle es sich jedoch nicht um speziell ausgebildete Therapiehunde. „Der Begriff ist nicht geschützt“, bedauert Herberger. „Ich kenne Leute, die mit Hunden an Schulen arbeiten, denen der fachliche Hintergrund fehlt, weil sie keine oder nur eine unzureichende Ausbildung gemacht haben.

Der Charakter ist wichtig

Andrea Beetz, Diplom-Psychologin am Institut für Sonderpädagogik der Universität Rostock, beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Therapiehunden. Nicht jeder sei für die Therapiearbeit geeignet: „Es gibt Rassen, die sind von Natur aus kinderfreundlich und geduldig, wie Labradore und Golden Retriever. Aber es kommt ganz auf den individuellen Charakter an.“ Die Einsatzstellen seien weit gefächert: Die meisten Therapiehunde arbeiten laut Beetz in Altersheimen und Einrichtungen für Behinderte, aber immer häufiger auch in Kindergärten und Schulen. Denn viele Studien belegten die positive Wirkungen eines Hundes speziell auf Kinder mit emotionalen und Verhaltensauffälligkeiten.

„Es ist neurowissenschaftlich nachgewiesen, dass ein Hund zu einer besseren Lernatmosphäre beitragen kann“, sagt die Psychologin. „Beim Körperkontakt, zum Beispiel beim Streicheln, wird das Bindungshormon Oxytocin im menschlichen Körper ausgeschüttet, das Stresshormon Cortisol nimmt dagegen ab.“ Das führe zum Abbau von Ängsten, Vertrauen werde schneller aufgebaut, die Stimmung helle sich auf. Ein Hund sorge für stressfreieres Lernen in einem positiven sozialen Kontext – genau das werde zur Verbesserung der Bildungseinrichtungen in Deutschland so oft gefordert.

„Psst, unser Schulhund Hanna ist in der Klasse, bitte tritt langsam und leise ein“, steht auf einem Schild an der Tür zum Klassenraum der 2H in der Schilling-Schule. Drinnen ist es ruhig, sieben Kinder beugen sich über ihre Hefte. Unter dem Waschbecken hinter der Tür steht ein grüner Wassernapf. An der Wand hängt ein selbstgemaltes Bild vom letzten Schulausflug: Kinder sitzen um ein Lagerfeuer, in ihrer Mitte ein graues Wollknäuel mit Augen.

„Hanna ist überall dabei“, erzählt Klassenlehrerin Stefanie Reinhardt. „Dabei war ich anfangs sehr skeptisch: Ein Hund im Klassenzimmer – dann hört mir ja keiner mehr zu.“ Eingetreten sei aber das Gegenteil: „Nach der anfänglichen Aufregung ist es ruhiger geworden. Es ist viel leichter, im Stuhlkreis still zu sitzen, damit der Hund liegen bleibt, als einem Lehrer zuliebe.“

Der Schultag fange morgens schon mit mehr Freude an, was sich positiv auf den Unterricht auswirke: „Hanna begrüßt immer jeden überschwänglich, der zur Tür hereinkommt, sie ist nie schlecht gelaunt.“ Hanna reagiere aber auch auf die Emotionen der Kinder. „Wenn ein Kind geschwächt ist oder vom Unterricht erschöpft, dann legt sie sich unter dessen Schreibtisch“, berichtet Reinhardt.

Eine spezifische Schwierigkeit beim Hunde-Einsatz gibt es an dem Neuköllner Förderzentrum: Fast die Hälfte der Kinder kommen aus muslimischen Familien. „Hunde sind in der islamischen Kultur unsaubere Tiere, da war die Skepsis und Abneigung von Eltern und Kindern anfänglich groß“, erzählt die Klassenlehrerin. Mittlerweile freuten sich auch diese Kinder, wenn Hanna sie morgens begrüßt. „Richtige Hundefans sind sie aber noch nicht geworden,“ sagt Reinhardt.