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Archiv-Artikel

Das Leben im ozeanbreiten Grafitti

SMILE OR DIE Was stellt Facebook mit den sozialen Beziehungen an? Ein Sammelband gibt erhellende Perspektiven auf Praktiken der Selbstzerteilung und auf eine neue Geständniskultur

Was ist der Ausweg aus dieser „Herstellung von Wahrheit durch endloses Klicken“? Vielleicht, überlegt Lovink, genüge als Ausweg das Bekenntnis: „Ich bin nicht, der ich bin“

VON JOHANNES GERNERT

Es gibt einfachere und kompliziertere Betrachtungsweisen von Facebook. In der allereinfachsten erscheint das Netzwerk wie ein riesiger Datenstaubsauger, der Milliarden Bilder, Mails und Statusmeldungen seiner Mitglieder einsaugt, um so immer größer zu werden und an Werbeerlösen zu wachsen. Wenn man es sich etwas schwerer machen will, kann man Facebook auch als eine große weite Leinwand betrachten, die Freundinnen und Freunde gemeinsam bemalen, an die sie Fotos von sich selbst heften, Botschaften schreiben oder Filmchen projizieren.

Jeder sieht seinen ganz eigenen Ausschnitt dieses ozeanbreiten Online-Grafittis. Und man kann sich vor die Schriftzüge, die Malereien der einzelnen Mitglieder stellen und sich fragen, was die Leute damit wohl sagen wollen, den anderen – aber auch sich selbst. Man kann dieses Online-Graffiti als eine Masse winziger Selbstporträts lesen, da wird es dann richtig kompliziert. Aber auch ziemlich interessant.

Es geht dann um die Frage, wie Menschen mit Technik umgehen und wie das eine die anderen beeinflusst und andersherum. „Generation Facebook“ ist der Versuch, die kompliziertere Betrachtungsweise zu wählen. „Über das Leben im Social Net“ heißt der Untertitel der Gedankensammlung, die Oliver Leistert und Theo Röhle herausgegeben haben.

Für den Philosophen Gerald Raunig beispielsweise ist Facebook nicht nur ein Medium der „Mit-Teilung, sondern auch der Selbstzerteilung“. Mit Nietzsche und Foucault erkennt Raunig einen Drang des Einzelnen, Teile seiner Ganzheit als eine Art Opfer der Allgemeinheit darzubringen. Diesen Bekenntniszwang versteht Raunig als ein Begehren, das, so hat das Foucault ausgedrückt, „eine bestimmte Seinsweise fixiert“. Öffentliche moralische Handlungen signalisieren dem Menschen sein Verhältnis zu sich selbst. Man hebt da den weiß-blauen Daumen, wo man sich moralisch verortet. Für Foucault ist das das „ungeheuerliche Gebot unserer Zivilisation“, nämlich „sagen zu müssen, was man ist.“ Das echte Ich, das „authentische Selbst“, erklärt Raunig, wird also nicht im Privaten, sondern im Öffentlichen gesucht. Und gestaltet. „Wir bedienen die Maschine Facebook, indem wir virtuos unser Leben formen, auf uns selbst spielen und uns mit-teilen“, schreibt er in seinem Beitrag „Dividuen des Facebook“.

Das begrenzte Ich

Auch die Soziologin Carolin Wiedemann entdeckt in dem sozialen Netzwerk ein System, das die Praktiken der „evaluativen Selbstbeobachtungen“ verstärkt. Schon das Ausfüllen der allerersten Onlineformulare für den eigenen Profilkatalog erscheint ihr, als handle es sich dabei um einen Lebenslauf für eine Bewerbung. Man arbeitet an sich selbst, man managt das Selbst. Und man wird dabei ständig aufgefordert, weiterzumanagen, mehr auf diese Riesenleinwand zu malen, die keine Grenzen zu haben scheint. Was Wiedemann damit sehr deutlich macht: Der Ausdruck des Ich findet innerhalb eines Programms statt, das die Ausdrucksmöglichkeiten eng begrenzt. Und sei es, dass die Kategorie Geschlecht nur als etwas Binäres gedacht werden darf. Missmut ist in dem Programm auch nicht wirklich vorgesehen. Der Daumen kann nur nach oben zeigen. Und zwei Identitäten gelten dem Facebook-Chef Mark Zuckerberg schon als ein Mangel an Integrität. So hat er das zumindest irgendwann mal gesagt. Eine Welt, in der mancher online Carl Salztal heißen möchte, obwohl in seinem Pass etwas anderes steht, möchte er sich nicht vorstellen.

Mit den Auswirkungen des starren Gedankenkorsetts, das die Programmierung dieser vermeintlich freien Leinwandfläche ausmacht, befasst sich der Netztheoretiker Geert Lovink. Es stehen eben nur ganz bestimmte Stifte und Dosen für die Wandbemalung zur Verfügung. Die Farben sind bevorzugt grell, „gespielt fröhlich, vorgetäuscht freundschaftlich, voller Eigenlob, routiniert verlogen“, so hat es die britische Schriftstellerin Zadie Smith einmal ausgedrückt. Was ist nun der Ausweg aus diesem System des „Smile or Die“, fragt Lovink, dieser „Herstellung von Wahrheit durch endloses Klicken“.

Vielleicht, überlegt er, genüge als Ausweg das Bekenntnis: „Ich bin nicht, der ich bin.“ Wer den Namenswechsel im Netz akzeptiert, akzeptiert auch die Neuerfindung. Wie traurig wäre das Gegenteil: „In einem System, das darauf abzielt, den Ausbruch von Nonkonformismus zu verhindern, werden offene Persönlichkeiten und fließende Identitäten nur mit dem Gesetz in Konflikt kommen“, schreibt Lovink. Pseudonyme billigen, heißt das Verlangen, ein anderer zu werden, anzuerkennen.

Lovink wird dann ein wenig sehr kulturpessimistisch und vergleicht dieses Vollfressen mit Facebook-Statusmeldungen mit dem Vollstopfen in einem FastFood-Restaurant, übles, leeres Fett. Alles sieht viel aus, ist aber am Ende erbärmlich wenig. Großes Kotzen des Autors angesichts des Konsumwahns.

Dass diese Perspektive in all dem Komplizierten das Reflexhaft-Einfache an mancher Stelle ein wenig überbetont, schadet dem inspirierenden Beitrag nicht. Die nächsten Essays leuchten dann ohnehin auch die politischen Möglichkeiten des Netzwerks aus. Es gibt trotz der technischen Beschränkungen einiges zu sehen auf der Riesenleinwand.

Oliver Leistert/Theo Röhle (Hg.): „Generation Facebook. Über das Leben mit Social Net“. Transcript Verlag, Bielefeld 2011, 288 Seiten, 21,80 Euro