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Archiv-Artikel

Zweite Heimat im Bunker

AUS TRAPPENKAMP HEIKE HAARHOFFUND ANDREAS HERZAU (FOTOS)

Ein Bunker. Entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen. Wollten ihn wirtschaftlichen Zwecken zuführen. Da konnte man nur abreißen. Günter Klauke aus der 20a am Telefon.

Er hat vielen im Ort erklärt, warum es aussichtslos war, das „Haus der Heimat“ der sudetendeutschen Landsmannschaft retten zu wollen. Er mag sich nicht mehr rechtfertigen. Aber er ist höflich. Also legt er nicht gleich auf, sondern nennt seine Gründe, rasch, stichpunktartig.

Günter Klauke ist 65, Inhaber eines Supermarkts und Eigentümer einer Bunker-Immobilie, die es seit kurzem nicht mehr gibt. Er ist gewohnt, hart zu kalkulieren. Aber er ist auch Anwohner. Von seinem Einfamilienhaus in der Erfurter Straße 20a erreicht er sein Geschäft und die Abrissbrache zu Fuß in fünf Minuten. Die Nachbarn aus der Straße kennen ihn alle. Er kann sich vorstellen, dass sich manchem die Kehle zusammengeschnürt hat, als Mitte Januar ein Bagger kam und das „Haus der Heimat“, eine abgewirtschaftete Begegnungsstätte für Vertriebene in einem alten Nazibunker, platt machte.

Er weiß um die Symbolkraft: Günter Klauke war ein Kind, als seine Eltern mit ihm aus Ostpreußen nach Schleswig-Holstein flohen und sich in Trappenkamp ein neues Zuhause aufbauten. Er holt Luft. Was er jetzt sagt, ist ihm wichtig: „Wir sind Holsteiner. Wir sind keine Ostpreußen, keine Sudetendeutschen, keine Pommern mehr.“

Die Geschichte der Erfurter Straße ist die Geschichte einer Nachbarschaft, die es ohne den Zweiten Weltkrieg nicht gäbe. Einer Gemeinschaft, deren Entstehen auf Verlust gründete. In der Erfurter Straße leben Vertriebene inzwischen in der dritten Generation. Sie heißen Günter Klauke, Helene Hannich, Christiane Wilkies-Lange oder noch ganz anders.

„Wir hatten genau eine halbe Stunde Zeit, unsere Sachen zu packen.“ Helene Hannich aus der Erfurter Straße 9 war zwölf, als der Tscheche, wie sie sagt, im Juli 1945 zu ihnen nach Hause kam in das Dorf Pulitschnei im Sudetenland und ihr dortiges Leben für beendet erklärte. Eine große Überraschung war das nicht. Dass die Tage der deutschen Minderheit auf tschechischem Territorium gezählt sein würden nach dem verlorenen Krieg, das hatten einige geahnt. Helene Hannich humpelt durch ihr Wohnzimmer auf der Suche nach alten Fotos. Sie ist jetzt 72, die Hüfte macht ihr zu schaffen, ihr Mann ist vor ein paar Jahren gestorben. Plüschhäschen, Schaumstoffhunde, Barbiepuppen sitzen in den Sofaecken. Ihre fünf Enkel haben sie drapiert. Zwei wohnen schräg gegenüber in der Erfurter Straße 37, die anderen drei ein paar Straßen weiter. Und in der Wohnung über ihr lebt ihr Sohn Dirk. Er ist der Einzige aus der Familie, der politisch aktiv ist. Für die CDU sitzt er in der Ratsversammlung. Wenn man mit ihm spricht, dann wird schnell klar, dass es mehr die schlechten Arbeitsmarktzahlen von Trappenkamp als die Interessen von Vertriebenen sind, die ihn dorthin gezogen haben. Wenn ohnehin bald jede Familie die Geschichte der Vertreibung erzählen kann, erübrigt sich Klientelpolitik.

Wenn man Helene Hannich zusieht, wie sie energisch in Chroniken stöbert auf der Suche nach einem bestimmten Bild, dann kann man sich vorstellen, dass sie deutlich zu machen wusste, dass die Familie eng beieinander stehen muss. Das hat sie die Vergangenheit gelehrt. Denn als es wirklich passierte, als der fremde Soldat unangemeldet an der Tür rüttelte in Pulitschnei und in ihrem Wohnzimmer auf und ab stolzierte, als wäre das bereits seins, da war das Mädchen Helene doch schockiert: darüber, dass keiner der tschechischen Nachbarn, zu denen sie doch guten Kontakt hatten, ihnen zu Hilfe eilte.

Leben ohne Passierschein

Ein Viehwaggon transportierte die Familie bis an die tschechisch-deutsche Grenze. „Und dann nur noch Landstraße.“ Helene Hannich mag nicht reden über das Gefühl, jemand ziehe ihr den Boden unter den Füßen weg. Zwei Jahre später, 1947, gelangten sie, die Eltern und der Bruder nach Trappenkamp. Der Vater hatte gehört, dass Sudetendeutsche, aber auch Vertriebene aus anderen ehemals deutschen Ostgebieten dabei seien, in Schleswig-Holstein einen neuen Ort zu gründen und dort ihre Gablonzer Glas- und Schmuckwarenindustrie aufzubauen.

Da endlich, Helene Hannich hat das Foto gefunden. Es zeigt die Erfurter Straße kurz nach dem Krieg, eine öde Waldschneise mit Bunkern zu beiden Seiten und ärmlich gekleideten Menschen davor. Helene Hannich lächelt stolz. Für sie zeigt es den Beginn eines neuen, eines guten Lebens.

Trappenkamp existierte bis dahin nur auf militärischen Landkarten. Die Nazis hatten hier seit den 30er-Jahren ein Marine-Sperrwaffenarsenal errichtet: 100 überirdische Bunker inmitten eines einen Quadratkilometer großen Fichtenwalds, verbunden über schmale Wegschneisen. Die verbreiterten die britischen Besatzer nach dem Krieg, damit die Bunker erreichbar wurden: als Massenunterkünfte für die vielen Vertriebenen aus dem Osten. Der Einfachheit halber benannten sie die Schneisen alphabetisch: A-Schneise, B-Schneise, C-Schneise. Die Erfurter Straße war die E-Schneise. Einige der Bunker sind bis heute erhalten, sie stehen verstreut zwischen vierstöckigen Mietshäusern, flachen Supermarkthallen, Grundstücksbrachen und Einfamilienhäusern.

In einem der Bunker eröffneten Helene Hannichs Eltern ein Glasgeschäft, in einem anderen fand ihr Mann Arbeit in einer Kartonagenfabrik. Als sie in den 50er-Jahren ein Grundstück zugewiesen bekamen, um ihr eigenes Haus zu bauen, war das Glück perfekt. Noch wenige Jahre zuvor hatten sie, wenn sie das Flüchtlingslager nach Einbruch der Dunkelheit verlassen wollten, einen Passierschein vorzeigen müssen. Die Siedlung war umzäunt, aber eingesperrt hat sich Helene Hannich nie gefühlt. Bis heute nimmt sie das Wort Ghetto nicht in den Mund. Immerhin konnte man hier unter sich sein, konnte das traditionelle sudetendeutsche Blut-und-Leberwurst-Essen veranstalten, Kleckselkuchen aus Resten backen, den Maibaum aufstellen und die Sonnenwende feiern, ohne dass jemand Anstoß nahm an den fremden Bräuchen. Andernorts wurden Vertriebene schief angeguckt, wenn sie kein Plattdeutsch verstanden. In manchen Orten gar empfand die heimische Bevölkerung die Neubürger als Bedrohung – allein aufgrund ihrer Zahl. Eine Million Flüchtlinge nahm Schleswig-Holstein nach dem Krieg auf. Das entsprach einer Verdoppelung der Einwohnerzahl. In der Erfurter Straße aber war es kein Makel, Vertriebener zu sein.

Christiane Wilkies-Lange ist eisern. Sie muss wegen einer schweren Krankheit starke Medikamente nehmen, mit 42 Jahren ist die Arzthelferin bereits Rentnerin, aber eine Probe des Trappenkamper Musizierclubs ausfallen zu lassen, nein, sagt sie, das passiere ihr nur im Ausnahmefall. Einmal pro Woche spielt sie dort Akkordeon, Flöte oder Klavier, je nachdem, was der Chor gerade singt: deutsche, englische, plattdeutsche, böhmische Lieder, das Repertoire ist wild.

Christiane Wilkies-Lange ist aufgewachsen in der Erfurter Straße 40 als Tochter eines Sudetendeutschen aus Karlsbad und einer niederländischen Stiefmutter, heute lebt sie in der Hausnummer 29a. Sie gehört zu der Generation, die entschieden hat, dass es angesichts knapper finanzieller Mittel wichtiger sei, das kulturelle Erbe zu fördern, als ein eigenes Vereinshaus zu besitzen. Sie proben jetzt in einer Schule, Christiane Wilkies-Lange, Dirk Hannich, noch eine Nachbarin, und wenn es einen Auftritt gibt, dann backt Helene Hannich Kleckselkuchen.

44 Nationen vor Ort

Schade ist es ja, die Geschichte mit dem Haus der Heimat, sagt Christiane Wilkies-Lange. Natürlich hatten sie gehofft, dass Günter Klauke, der ihnen das Vereinshaus abkaufte, als die Landsmannschaft vor der Pleite stand, eine Lösung finden würde. Aber Günter Klauke hat abgerissen. Naja, sagt Christiane Wilkies-Lange, aber was ist denn schon ein Ort?

Die Frage, wo ihre Heimat sei, hat sie nie gequält. „Mein Vater hat uns nie etwas über Karlsbad erzählt, bei uns gab es keine Fotos von dort“, sagt sie. Die Kinder fragten auch nicht nach. „Fragen können immer erst die Enkel.“ Es war ihre Stiefmutter, die Niederländerin, die vor 25 Jahren den Musizierclub gründete und den Trappenkamper Kindern und Jugendlichen fortan böhmische Volksweisen beibrachte. Die Kinder sollten erfahren, welche Musik dort gespielt wurde, wo die meisten ihrer Eltern und Großeltern herkamen, und sie sollten erfahren, dass diese Musik gleichberechtigt ist mit anderer Musik. Daher die vielen unterschiedlichen Sprachen, in denen gesungen wird. Daher die vielen Mitglieder ohne Vertriebenen-Hintergrund, die im Chor mitmachen.

In Trappenkamp leben heute 5.500 Menschen aus 44 Nationen. Christiane Wilkies-Lange sagt: „Die Menschen hier wissen, wie man sich fühlt, wenn man fremd ist.“ Als sie 1997 für ihr Engagement im Musizierclub den Kulturpreis für junge sudetendeutsche Familien bekam, gab es für sie nur eine Verwendung für das Preisgeld: eine Reise! Zur Familie der Stiefmutter nach Holland! Nicht nach Tschechien? „Aber warum denn?“ Christiane Wilkies-Lange sieht überrascht aus. Wen, bitte schön, hätte sie da besuchen sollen? Die Menschen, für deren Kultur, Sprache, Speisen sie sich interessiert, die sind schon lange nicht mehr dort. Die sind doch jetzt hier, in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.

Eine längere Fassung dieser Reportage erscheint im taz-Journal „Die Macht der Erinnerung“, das ab 13. April erhältlich ist