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Archiv-Artikel

Warten mit Ulysses

Moskitonetz, Malariaprophylaxe, alles, was mir noch fehlte, war ein Buch. Kurz entschlossen steckte ich „Ulysses“ nach ganz, ganz unten in meinen Rucksack. Dann begann mein Abenteuer: drei Monate im bolivianischen Regenwald bei einem indigenen Radioprojekt

VON DANIEL STENDER

Drei Monate lang stehe ich jeden Morgen um 7 Uhr früh auf einem Basketballfeld, Christiane wirft mir den Ball zu, ich ziele – und werfe daneben. Um 7 Uhr in der Früh Basketball spielen! Das glaubt mir zu Hause keiner. Zwanzig Minuten lang spielen wir uns ungelenk die Bälle zu. Kaum geht die Sonne auf, wird es schon wieder heiß. Über den grünen Regenwaldhängen geht die Sonne auf und beleuchtet eine prähistorische Kulisse: Jurassic Park. Fehlen nur noch die Dinosaurier. Der Tag fängt an. Die Hitze. Das Warten.

Tumupasa. Ein Dorf im bolivianischen Amazonasgebiet, eine Tagesreise von der Hauptstadt La Paz entfernt. Wir, Christiane und ich, sind hier, um unser Projekt zu machen – Radiokultur mit Indígenas. Radiokultur, das klingt gut, eloquent, modern. Indígenas, das klingt nach Abenteuer, Greenpeace und Winnetou. Für das Projekt haben wir viel gelesen, über Bolivien und über Radio in Lateinamerika überhaupt. Wir wissen also: Bolivien befindet sich gerade in einem Dezentralisierungsprozess, auch kleine indigene Gruppen wie die Tacanas, mit denen wir arbeiten, bekommen mehr Rechte zugesprochen. Der Radiosender, für den wir Reporter ausbilden sollen, ist Teil einer Strategie, mit der die Tacanas für ihr eigenes Territorium kämpfen. Wir machen unser Projekt, damit aus jedem Dorf Interviews zum Radio geschickt werden. Damit die Tacanas ihre eigenen Nachrichten und Geschichten machen.

Radio ist in Bolivien das Medium der einfachen Leute. Zeitungen gibt es auf dem Land kaum, nur zehn Prozent der Bevölkerung haben einen Fernseher, aber siebzig Prozent ein Radiogerät. In Bolivien debattieren die Dorfältesten live über aktuelle Themen und trinken dabei Kokatee. In Bolivien kommt es vor, dass ein ambitionierter Radioamateur fünfzehn Lamas gegen ein Mischpult eintauscht. Wir wollen in unseren Seminaren kurze Interviews und Reportageübungen machen.

Eigentlich. Denn die Uhren laufen hier anders, und besonders das Radio läuft anders, als wir erwartet haben. Meistens läuft es gar nicht. Denn immer wieder kommt es zu Stromschwankungen, die die empfindlichen Radiogeräte nicht aushalten – sie brennen einfach durch. Um Ersatzteile zu besorgen, muss man eine Tagesreise ins auf 4.000 Meter Höhe liegende La Paz machen. Dort das Teil suchen, wieder zurückfahren. Dann fehlt noch der Techniker, der irgendwann kommt und das fehlende Teil einbaut. Dann endlich kann es losgehen: Radio Tacana geht auf Sendung. An solchen Tagen gehen wir morgens zum Sender und treffen uns mit Mario. Er ist der Moderator von Radio Tacana, aber eigentlich ist er auch Aufnahmeleiter, Reporter, Musikredakteur, Ausbilder und Techniker, außer ihm arbeitet hier niemand. Mario ist Tag und Nacht hier, sein Arbeitsplatz ist ein Mischpult mit vier Reglern, einem Mikrofon, einem Kassettenrecorder und einem CD-Spieler. Mario hält mit einer Hand das Mikrofon fest und spult mit der anderen Hand eine Kassette an die richtige Stelle: Sechs Umdrehungen sind ungefähr eine Minute. Der Jingle kommt von Kassette, dann sind wir auf Sendung und kündigen ein Seminar an. Die nächsten zwei Tage hört ganz Tumupasa Radio Tacana, dann brennt wieder ein Teil durch und das Warten beginnt von vorn.

Ich krame „Ulysses“ raus und lese die ersten hundert Seiten, die sollen ja am schwierigsten sein, aber auch ab Seite 101 wird es nicht spannender. Morgens gehen wir zum Basketball und wieder zurück. Auf unserem Weg über die staubige Straße grüßen wir das ganze Dorf: „Buenos días“ – „Buenas tardes“ – „Buenas noches“, dreißigmal am Tag, nett sind wir, höflich sind wir, alle kennen uns. Wir sind die zwei Gringos, eine Frau und ein Mann, die irgendwie zusammenwohnen, aber kein Paar sind, die keine Kinder haben, aber dafür einen Fotoapparat. Deren Flug mehr kostet, als das Jahreseinkommen einer Familie beträgt. Zufällig treffen wir auf der Straße einen anderen Gringo, er ist Kanadier. Er sagt, er habe genug von der civilization. Er sei tagelang fast ohne Essen durch einen Flusslauf gewatet, dann hat ihm jemand einen Fisch geschenkt. Den hat er gegessen. Roh. Er sagt, in Tumupasa ist schon zu viel Zivilisation, Strom und elektrisches Licht. Er will tiefer in die Wildnis. Wir wünschen ihm Glück, und er zieht weiter.

Ansonsten: „Ulysses“ lesen, spazieren, Tagebuch schreiben, von der einzigen Telefonzelle im Dorf nach Hause telefonieren. Die Verbindung ist erstaunlich gut, nur das Gefühl ist seltsam – zwischen herumwuselnden Straßenschweinen und Hunden fremde Worte in einen Plastikhörer zu sagen. Wieder zurück. „Ulysses“ lesen. Denken, dass ein Tag im Dublin von 1904 spannender wäre als dieses exotische Rumhocken. Auf Seite 755 überschneiden sich plötzlich meine Welt und die von Leopold Bloom. Denn auf Seite 755 sitzt Bloom nachts in einer Kneipe. Ein betrunkener Seebär zeigt ihm eine Postkarte. „Der Aufdruck darauf lautete – Choza de indios. Beni. Bolivia.“ Das ist ziemlich genau da, wo ich gerade bin. Das Foto zeigt „eine Gruppe von wilden Weibern im Lendenschurz“. Der Seebär erzählt Leopold Bloom raunend, dass die Leute auf der Postkarte gefährlich und wild seien. Kneipen in Dublin erscheinen mir wesentlich wilder.

Die Tacanas, bei deren Radioprojekt wir helfen wollen, sind eine kleine indigene Gemeinschaft von vielleicht sechstausend Menschen, die in weit verstreuten Dörfern leben. Über die Geschichte der Tacanas ist wenig bekannt. Anfang des 16. Jahrhunderts durchstreiften die Spanier das Gebiet, aber es hielt sie nicht lange in der stickig-heißen Tiefebene. Nur die Franziskanermönche blieben und begannen mit der Missionsarbeit. Bis heute ist die Kirche der Mittelpunkt des Lebens in Tumupasa. Die Tacanas sind katholisch, sprechen spanisch, tragen Jeans und Hemd und entsprechen überhaupt nicht dem Klischee, das man von Ureinwohner haben könnte. Im Gegenteil: Die Tacanas sind so unauffällig, dass sie bisweilen indígenas invisibles, unsichtbare Ureinwohner, genannt werden. Die Sprache der Tacanas wird nur noch von etwa 450 Menschen gesprochen. Tacana zu sprechen galt früher als rückständig, der Schulunterricht findet auf Spanisch statt, auch die Eltern sprechen mit ihren Kindern spanisch.

Über achtzig Prozent der bolivianischen Landbevölkerung gilt als arm, in Tumupasa hat eine Durchschnittsfamilie knapp vierzig Euro pro Monat. Die meisten leben von der traditionellen Brandrodung: Man zündet ein Stück Wald an, pflanzt Reis und Yucca und rodet dann ein anderes Feld. Von dem kleinen Hügel aus, auf dem das Dorf liegt, kann man an guten Tagen das mar verde, das grüne, endlose Meer des Regenwaldes sehen – an normalen Tagen hängt der bleigraue Dunst zahlloser Brände über dem Land.

Früher zog ein Ausrufer von Dorf zu Dorf und erzählte auf dem Marktplatz, was in den anderen Dörfern geschah. Heute findet Information bei Don Mateo statt, dem umtriebigen Besitzer der einzigen Kneipe im Dorf. Hierher kommen die Männer am Wochenende, um Bier zu trinken – und deren Frauen, um sie wieder nach Hause zu holen. Aber noch wichtiger als das Bier, das Don Mateo ausschenkt, ist der Fernseher, der Telenovelas, Nachrichten und Werbung aus der Hauptstadt bringt.

Wir leben wie in einem Brunnen, von außen kriegen wir überhaupt nichts mit.“ Das sagt ein älterer Mann auf einem unserer Seminare, er sagt, dass man noch nicht einmal wisse, was im nächsten Dorf geschieht. Er will morgen wieder kommen. Aber stattdessen kommen dreißig Kinder zwischen sechs und sechzehn Jahren. Sie drängen sich um die Diktiergeräte, mit denen sie Interviews machen. Darüber, dass bald die Fußballspiele der vier größten Gemeinden stattfinden. Und über die Wahl der „Miss Sport“, der schönsten und sportlichsten Schülerin.

„Also, ich bin davon überzeugt, dass man mehr Sport machen muss, denn Sport ist gut für die Entwicklung des Gehirns.“ Beifälliger Applaus, Maria Chuki hat es fast geschafft, seit drei Runden steht die 14-Jährige schon im Scheinwerferlicht. Sie hat alle vorgeschriebenen Garderoben getragen, die traditionelle Variante aus Palmwedeln und Federn, den sportlichen Tennisdress und das weiße Ballkleid samt kunstvoll getürmter Frisur. Aber nicht nur ihre Schönheit soll bewertet werden, auch ihre Fähigkeit zu moralischen Statements. „Alkohol ist schlecht für die Gesundheit“, sagt sie. Das Publikum ist begeistert, die Jury entscheidet: Maria Chuki ist die „Miss Sport“ des Jahres. Die Dorfjungs lassen sich mit ihr fotografieren. Dann fällt plötzlich der Strom aus, Tumupasa und die Schönheitskönigin liegen wieder im Dunkeln.

Am nächsten Morgen warten wir wieder. Aufs nächste Seminar. Darauf, dass das Radio wieder funktioniert. Ich lese ein zweites Mal „Ulysses“. Diesmal geht es schneller, ich lese sogar die zwanzig Seiten auf Mittelhochdeutsch, die ich beim ersten Mal überblättert habe. Und natürlich immer wieder den Schlussmonolog von Molly Bloom, die ohne Punkt und Pause mit sich selbst plaudernd auf dem Klo sitzt und von anderen Männern und vom lieben Gott erzählt, die ihren Leopold so richtig satt hat. Das wäre hier sicher nicht möglich. Frauen sitzen hier nicht in Kneipen. Frauen kriegen hier Kinder. Man heiratet mit achtzehn und spielt Basketball. Sonst geht der Tag hier um 6 Uhr früh los und endet um 9 Uhr abends. In die nächstgrößere Stadt fährt man zwei Stunden, zusammen mit zwanzig anderen Leuten auf der Ladefläche eines Autos neben Reifen, Eierpappen, Hunden und Papageien. Wer kein Geld fürs Auto hat, läuft. Die übliche Kalkulation lautet: einen Tag mit Schuhen, anderthalb ohne.

Schließlich schaffen wir es doch: Wir machen eine richtige Sendung, eine Art Funk-Bravo à la Tacana, zusammen mit den Jugendlichen aus Tumupasa. Es gibt ein Interview zum nächsten Fußballspiel, die Musik ist von Eminem und Shakira. Es gibt Gesundheitstipps darüber, dass geröstete Papayakerne gegen Bauchschmerzen helfen. Die Formate tragen klangvolle Namen wie „Von Herz zu Herz“ oder „Musik und Gefühl“. Auch die moralische Seite kommt nicht zu kurz, die 14-Jährigen lesen Botschaften vor, wie „Liebe Kinder, wenn eure Eltern euch strafen, dann tun sie es nur, weil sie euch lieben und euer Bestes wollen“. Das Radio läuft, und sie erzählen ihre eigenen Geschichten. Auch ohne uns. Und überhaupt: „Ulysses“ kann man schließlich überall lesen.

DANIEL STENDER, 27, studiert in Berlin Publizistik. Als Nächstes plant er, auf Grönland Proust zu lesen