Jugendliche Erweckung

Das Folkwang Museum in Essen widmet dem Gemälde „Der Frühling“, einem symbolistisch schwülen Gemälde des Schweizer Malers Ferdinand Hodler, eine werkmonographische Schau

VON KÄTHE BRANDT

Ein nackter Jüngling und ein junges Mädchen sitzen, symmetrisch und parallel aufgereiht, in einer steinigen Blumenwiese und bieten sich dem Blick des Beschauers dar. Sie, von einer seltsamen Leidenschaft ergriffen und mit geschlossenen Augen ihm zugewandt, verharrt in ornamentaler Anspannung. Er blickt trotzig selbstverliebt aus dem Bild auf den Betrachter. Sein augenscheinliches Desinteresse an der ekstatischen Begleiterin, seine zweideutige – schöne aber unsinnliche – knochige Nacktheit und die verdrehte, fast gequälte Körperhaltung statten dieses Bürschchen mit einer Fülle an Bedeutungen aus, welche die abendländische Kulturgeschichte zum männlichen Akt hervorgebracht hat. Antiker Ephebe, Adonis und spätgotische Christusfigur verschmelzen zu einer seltsam ambivalenten Gestalt, deren geschlechtliche Zuordnung zurücktritt hinter dem offensichtlichen malerischen Begehren, des vergänglichen Schönen habhaft zu werden. Der nackte Jüngling und mit ihm das gesamte Bild einer latenten, keusch-verklemmten Erotik, scheint jene Sehnsucht nach Jugend mit all ihren Verheißungen zu verkörpern, die im Aufbruchspathos der Jahrhundertwende besonders in Deutschland vielerorts gegenwärtig war.

In einem Nebenraum im Folkwang Museum sollen, als musealer Appendix zur Ausstellung, die von Osthaus angekauften männlichen Aktskulpturen diesen pädophilen Zeitgeist illustrieren. Dass ein Katalogtext in populär psychologisierender Weise auch über die möglichen intimen Motive des Sammlers Osthaus spekuliert, scheint allerdings fragwürdig. Ferdinand Hodler (1853-1918) malte das Bild „Der Frühling“ zwischen 1899/1904 und 1912 insgesamt vier Mal. Was der Frühling als Jahreszeit und Sinnbild für „das Erwachen der männlichen und weiblichen Sexualität“ dem Künstler bedeutet haben mag, darüber läßt sich spekulieren. In vielen zeichnerischen Variationen jedenfalls umkreist Hodler das Thema der jugendlichen Erweckung, namentlich wohl derjenigen seines geliebten Sohnes Hector. Einerseits gewähren die Motivwiederholungen Einblick in den obsessiven Charakter jener Kunst und Weltanschauung, die die Vereinigung des Sinnlichen mit dem Geistigen so angestrengt in der erotischen Spannung suchte. Andererseits lässt sich anhand der vier Gemälde auch Hodlers malerische Entwicklung hin zu einem freieren Umgang mit der Farbe und der Form nachvollziehen. Die sichtbaren Nachbesserungen und verändernden Eingriffe belegen die malerische Emphase, die den Künstler offenbar umtrieb.

Mit zunehmendem Erfolg war der Künstler auf die Mithilfe von Assistenten angewiesen. Wohl auf die Empfehlung des belgischen Architekten Henry van de Velde, der sowohl als Innenarchitekt für den ersten Hagener Museumsbau als auch für das Privathaus des Sammlers verantwortlich war, wurde Osthaus auf Hodler aufmerksam. Er erwarb mit dem Gemälde „Der Frühling“ 1905 das erste Werk des Schweizers für eine deutsche Sammlung, für sein Privathaus ebenfalls das Riesenbild „Der Auserwählte“ – eine wunderbar kitschige Apotheose der Kindheit, die nun mit den vier Frühlingsbildern in einem Raum hängt.

Interessant ist die Essener Ausstellung nicht allein deshalb, weil an ihr mehr oder weniger erfolgreich vorgeführt werden kann, wie eine begrenzte Bilderauswahl Licht auf Werk und malerisches Streben eines Künstlers und seiner Zeit werfen kann. Interessant ist auch, wie hier aus der Not eine Tugend gemacht wird – indem wirtschaftlich zwingende euphemistisch zu ästhetisch-kuratorischer Bescheidenheit erklärt wird.

Folkwang Museum, Essenbis 3.Juli 2005