IN DEN USA HINTERLÄSST JOHANNES PAUL II. EIN ZWIESPÄLTIGES ERBE
: Die katholische Alternative

Eins muss man Papst Johannes Paul II. lassen: Er wusste historische Momente zu nutzen und mediengerecht zu inszenieren – selbst bei seiner Beerdigung gelingt ihm das noch. Die innerkirchliche Diskussion aber, unter Johannes XXIII. quicklebendig, wich unter seinem Nachfolger einer strikten Parteilinie. Die große alternative Tradition des Katholizismus, der aktiven Teilhabe des Kirchenvolkes an der Kirchenführung, wurde unter Karol Wojtyła in die Geschichtsbücher verbannt, was den Theologen Hans Küng zu dem Seufzer veranlasste, das Pontifikat von Johannes Paul II. sei ein „monarchistischer Albtraum“ gewesen.

Das Schicksal der Bewegung der Befreiungstheologie ist dafür beispielhaft. Ein authentischer Beitrag Lateinamerikas zu einer sozial fundierten Theologie, entstanden auf einem Kontinent ohne Hoffnung auf Gerechtigkeit, wurde als kirchenspalterisch verunglimpft. Die Reform der lateinamerikanischen Gesellschaften hat das für eine Generation zurückgeworfen. Die kreativen Energien der katholischen Gläubigen verpufften, viele wandten sich von ihrer Kirche ab.

Eine besondere Enttäuschung stellt allerdings der Katholizismus in Nordamerika da. Die großen sozialen Errungenschaften der Vereinigten Staaten, die Entwicklung des amerikanischen Wohlfahrtsstaates, verdanken den katholischen Intellektuellen und Organisationen viel. Ohne die katholische Morallehre wäre der selbstgerechte Protestantismus, den die USA erfahren, längst Amok gelaufen. Die Zustände heute sind schlecht genug. Doch wer von der Vorstellung entsetzt ist, unsere Nation lediglich als einen gigantischen Markt zu begreifen, kann sowohl Inspiration als auch Trost aus den Perioden der US-Geschichte beziehen, in denen die Katholiken Sozialreformen in Angriff nahmen. In seiner späten Amtszeit muss der Papst dies im Kopf gehabt haben, als er auf einem seiner USA-Besuche der amerikanischen Bevölkerung zurief, keiner unter ihr sei so reich, dass er die Bedürfnisse der Armen vergessen könnte, und keiner so arm, dass er der Nation nichts zu geben hätte.

Und trotz allem, trotz der offenen Opposition des Papstes gegenüber dem Irakkrieg, gegenüber dem Weltmachtanspruch der Regierung Bush und der Herrschaft des Marktes, hat die katholische Kirche der USA zur Niederlage John Kerrys bei den letzten Präsidentschaftswahlen beigetragen. Prominente Kardinäle und Bischöfe haben ihren Gemeindemitgliedern nahe gelegt, nicht für Kerry zu stimmen – aufgrund seiner Ansichten über die Rechte von Homosexuellen und Frauen. Und die Kirchenoberen wurden gehört. Der Papst, als unermüdlicher moralischer Pilger, als vielsprachiger Fernsehprediger, war ein beeindruckender Performancekünstler. Sobald das Papamobil aber in der Garage des Vatikans geparkt war, kehrte er zu einer Komplizenschaft mit den Reichen und Mächtigen zurück und zu seiner pathologischen Beziehung zur Sexualität.

Die Liebe zur Erde und zu ihren Bewohnern, die Zurückweisung der immerwährenden Ungleichheit der Menschen und die Abscheu vor Gewalt sind Themen, die auch Anhänger gegensätzlicher philosophischer Weltdeutungen vereinen können. Ihre philosophischen Unterschiede müssen im Dialog geklärt werden. Es ist schwer abzusehen, wie die Katholiken sich in diesen Dialog mit den säkularen, progressiven Kräften oder den anderen Weltreligionen einbringen können, wenn offene Diskussionen innerhalb ihrer eigenen Kirche kaum möglich sind.

Der Papst hinterlässt also ein zwiespältiges Erbe. Seine Vision von einer sozial gerechteren Welt hat Millionen inspiriert und erfordert Anerkennung. Seine Weigerung, die Kirche zu demokratisieren und die Rechte der Frauen anzuerkennen, unterdrückte einige der lebendigsten Kräfte in der katholischen Welt. Es hat politische Allianzen zwischen Katholiken und progressiven Kräften anderer philosophischer und religiöser Gemeinschaften erschwert.

Es wird noch zu klären sein, ob die Katholiken, die sich mit der Öffnung der Kirche zur Welt, die Johannes XXIII. betrieben hatte, identifizieren konnten, sich ihre Kirche nun zurückerobern werden. Ein heftiger Konflikt zwischen liberalen und konservativen Kräften in der Kirche ist nicht zu vermeiden, wer auch immer das nächste Pontifikat übernehmen wird. Ohne Zweifel war Papst Johannes Paul II. ein Gigant, der von allen modernen Päpsten die weitaus theatralischste Figur war. Er hat die Bühne nun verlassen – die Aufgabe, die er seiner Kirche hinterlässt, wird zunächst ein mühsames, sogar quälendes Selbstgespräch sein.

NORMAN BIRNBAUM

Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen