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Archiv-Artikel

Der nicht, der nicht, der auch nicht, der schon gar nicht – aber der!

WEHRGERECHTIGKEIT Nur noch jeder Fünfte wird zum Wehrdienst eingezogen. Kölner Richter finden das verfassungswidrig

FREIBURG taz | Die Kölner Richter versuchen es immer wieder. Schon seit Jahren kritisiert das dortige Verwaltungsgericht, dass die aktuelle Einberufungspraxis dem Grundgesetz widerspreche. Es verletze die Wehrgerechtigkeit, wenn weniger als 20 Prozent eines Jahrgangs Wehrdienst leisten müssten. Derzeit liegen vier Kölner Verfahren beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zur Prüfung.

Der Konflikt begann im Jahr 2003, als die Bundeswehr ihren Einberufungserlass änderte. Wer älter als 23 Jahre oder verheiratet ist, wird seither nicht mehr eingezogen. Dasselbe gilt für Männer, die bereits einen Ausbildungsvertrag unterschrieben haben oder nur eingeschränkt tauglich sind (Tauglichkeitsgrad T3). Die Kölner Richter sahen darin einen Verstoß gegen das Wehrpflichtgesetz und setzten in Köln und Umgebung die Wehrpflicht aus.

Darauf reagierte der Bundestag und übernahm die neuen Ausnahmen ins Wehrpflichtgesetz. Daraufhin befand das Bundesverwaltungsgericht, dass die Wehrgerechtigkeit gewahrt sei. Denn von den jungen Männern, die nach Berücksichtigung aller gesetzlichen Ausnahmen übrig blieben, mussten damals tatsächlich fast 90 Prozent Wehrdienst leisten. Heute sind es noch rund 80 Prozent.

Seitdem legt das Verwaltungsgericht Köln immer wieder Fälle dem Bundesverfassungsgericht vor. Es hält das Wehrpflichtgesetz mit seinen vielen Ausnahmeregelungen für verfassungswidrig. Es könne nicht dem Gesetzgeber überlassen bleiben, die Wehrdienstausnahmen und Tauglichkeitsanforderungen jeweils an den Bedarf der Bundeswehr anzupassen. Je weniger junge Männer einberufen würden, desto eher werde die eigene Wehrpflicht von den Betroffenen als ungerecht angesehen, gaben die Richter zu bedenken.

Stadt ohne Wehrpflicht

Vom Jahrgang 1984, der aus rund 430.000 jungen Männern bestand, leisteten nur rund 73.000 Wehrdienst, das waren 17 Prozent. Rund 30 Prozent leisteten als Kriegsdienstverweigerer Ersatzdienst, ein weiteres Drittel wurde als untauglich ausgemustert, für den Rest galten sonstige Ausnahmen.

Bisher hat das Bundesverfassungsgericht die Richtervorlagen aus Köln einfach nicht entschieden und für erledigt erklärt, als die betroffenen jungen Männer das Einberufungsalter von 23. Jahren erreicht hatten. Der in dieser Angelegenheit federführende Richter ist der einst von der SPD nominierte Michael Gerhardt. Unter den aktuellen Fällen ist allerdings ein junger Mann, der gerade erst 18 geworden ist, dessen Rechtsschutzbedürfnis also erst in fünf Jahren entfallen wird. Diesmal wird das Bundesverfassungsgericht also wohl entscheiden müssen.

Dessen bisherige Entscheidungen zur Wehrpflicht waren allerdings recht militärfreundlich. 2002 entschied man, dass die Wehrpflicht auch nach dem Ende des Kalten Krieges beibehalten werden könne. Der Gesetzgeber könne hier frei entscheiden, weil ja auch andere Aspekte, wie die bessere Möglichkeit zur Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses, relevant seien. Im gleichen Jahr lehnte das Verfassungsgericht auch die Beschwerde eines jungen Mannes ab, der die Wehrpflicht für männerdiskriminierend hielt. Die Wehrpflicht sei laut Grundgesetz nun mal nur für Männer vorgesehen.

In Köln wird derzeit niemand gegen seinen Willen eingezogen. Wer sich an das Verwaltungsgericht wendet, bekommt eine einstweilige Anordnung. Das sind derzeit allerdings nur vier junge Männer. Offensichtlich reagiert das örtliche Kreiswehrersatzamt mit Blick auf die renitenten Richter schon auf bloße Bitten der jungen Männer, sie zu verschonen. CHRISTIAN RATH