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Archiv-Artikel

Albern am Abgrund

Joachim Meyerhoff inszeniert am Maxim Gorki Theater eine Erinnerungskomödie der vergangenen Bundesrepublik. Doch vor lauter Anekdoten wird das Stück nur selten seinem Gegenstand gerecht

VON ESTHER SLEVOGT

Wer kennt das nicht: Man erinnert sich, erzählt, verdichtet oder schmückt aus, und im milden Licht des Anekdotischen schrumpfen selbst veritable Tragödien auf erträgliches Soap-Maß und Kindheitsgeschichten schwellen auf Symbolformat an. Schon für Marcel Proust hatte sich im Geschmack eines Gebäcks retrospektiv der Geschmack einer ganzen Epoche konzentriert. „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“, hat Joachim Meyerhoff, im richtigen Leben mehr Schauspieler als Autor und Regisseur, nun im vollen Bewusstsein der verklärenden Faktoren des eigenen Erinnerungsvermögens einen von ihm geschriebenen und inszenierten Abend überschrieben, in dessen Zentrum Kindheits- und Jugenderinnerungen einer Figur stehen, die er wohl ebenfalls selber ist.

Da sitzt er also. Auf der Bühne schlängelt sich wie der lange, ruhige Fluss des Lebens (oder der Erzählung) eine Holzbank über die volle Breite von links nach rechts. (Bühne: Joachim Meyerhoff und Sabine Volz). Vorläufig sitzt Meyerhoff hier noch allein. Später werden sich auf dieser Bank zehn weitere Akteure zu immer neuen Erinnerungsbildern aus seinem Leben gruppieren. Doch erst einmal fängt die Geschichte als Solo und getragen von der Meyerhoff-typischen Soundmischung aus Naivität und beißender Ironie an. Minutiös bekommen wir die Geschichte seiner Großeltern erzählt, von ihren jugendlichen Anfängen in der Vorkriegszeit bis zum komplett ritualisierten Tagesabauf in einer Münchener Villa Anfang der 70er-Jahre – mit Angestellten, Magnolienbüschen, Dresscode und Drink für jede Tageszeit und minutengenau getakteten Malzeiten.

Im Hintergrund tropft den ganzen Abend eine schmelzende Eiswand, auf die Familienfotos projiziert werden. Natürlich wirken die bürgerlichen Rituale dieser „auf exotische Weise kultivierten“ Großeltern, von denen wir hören, schrill und merkwürdig brüchig. Dazu trägt auch deren erheblicher Alkohol- und Tablettenkonsum bei, von dem Meyerhoff mit ironischem Sentiment erzählt. Doch die Brüchigkeit der bürgerlichen Lebensform wird in der nächsten Generation noch wesentlich stärker in den Vordergrund treten. Nun wird die Geschichte mit verteilten Rollen und in skizzierten Spielszenen erzählt. Mal ist das Meyerhoff’sche Ich eine Frau, dann wieder ein Mann. Der Vater leitet eine Nervenklinik, das Elternhaus steht mitten auf dem Anstaltsgelände und den heranwachsenden Brüdern stellt sich die eigene bürgerliche Lebenswelt samt ihrer Rituale als groteske Verzerrung dar. Weihnachtsfeiern mit Irren, die ihre Geschenke nach dem Auspacken minutenschnell zerstören, die absurden Ticks und Verstörungen einzelner Patienten.

Die Familienvilla in der Mitte des Klinikgeländes wirkt wie eine letzte Bastion des Bürgerlichen in einer sich auflösenden Welt. Eine Bastion, die nicht zu halten ist. Während Haustiere sterben, Eltern sich trennen und wieder zusammenziehen, während erste sexuelle Erfahrungen gemacht werden, ein Bruder tödlich verunglückt und am Ende auch der Vater stirbt, zieht mit den Geschichten ein westdeutsches Nachkriegspanorama vorüber. Das hat oft Witz, manchmal eine sanfte Poesie und greift gelegentlich auch ans Herz. Denn es wird viel gestorben in dieser Geschichte, deren Motto – eine englische Besatzungswarnung von 1945 – in großen Lettern über der Szene prangt: „Be careful! Death is so permanent.“

Doch leider ist Meyerhoff so verliebt in seine Geschichten und Anekdoten, dass er ihr wahres Potenzial verkennt. Eigentlich wird nicht nur eine Familiengeschichte, sondern vom Untergang einer Lebensform, vom Verschwinden der alten Bundesrepublik erzählt. Der Stoff hat starke Ansätze, die dann im Banalen verkümmern. Auch die Umsetzung bleibt leider schwach, Meyerhoff verläppert sich im Anekdotischen. Er erzählt zu viel, zu breit, zu oberflächlich. Da stehen Erzählungen wie die von der Putzfrau mit dem unglücklichen Namen Frau Fick, die versehentlich das Familienmeerschweinchen mit dem Staubsauger verschluckte, neben der Geschichte vom todkranken Hund des tödlich verunglückten Bruders.

Meyerhoff hat mit Schauspielern wie Rosa Enskat, Monika Lennartz, Anna Kubin, Horst Fischer oder Thomas Bischoffsberger ein starkes und spielfreudiges Ensemble. Aber er kann es nicht nutzen. So verhaspelt sich der Abend immer wieder in leicht verkrampften Choreografien oder stürzt in alberne Abgründe ab. Meyerhoffs Stück hat einen starken Inhalt, der immer wieder seine fesselnden und bewegenden Momente hat, der aber in den knapp drei Stunden, die er dauert, insgesamt zu keiner angemessenen Form findet.