Der Diplomat im Dienste der Endlösung und seine Sekretärin

TÄTER Horst Wagner war ein hoher NS-Funktionär. Einer Strafe entkam er mithilfe eines Netzwerks, das bis ins Auswärtige Amt reichte

VON ALEXANDRA SENFFT

Der Titel „Geliebter Täter“ trifft den Nagel auf den Kopf: Kann man einen Verbrecher lieben? Liebe ist „gut“, Verbrechen „böse“ – diese Ambivalenz ist so unerträglich, dass sich die meisten Menschen für das vermeintlich Gute entscheiden: Sie lieben bedingungslos und verdrängen das Verbrechen. So war es auch mit Gisela Heidenreichs Mutter: Sie war Horst Wagner verfallen, dem SS-Standartenführer und vortragenden Legationsrat im Auswärtigen Amt, der als Verbindungsmann des AA zu Reichsführer-SS und Reichsinnenminister Heinrich Himmler fungierte. Die beiden hatten sich beim Hauptkriegsverbrecherprozess 1947 im Nürnberger Justizgefängnis kennengelernt. Die Mutter der Autorin wurde dort als Zeugin vernommen, weil sie Mitarbeiterin des „Lebensborn e. V.“, Himmlers Vereins „zur Förderung der arischen Rasse“, gewesen war.

In einem Lebensborn in Oslo ist auch Heidenreich 1943 geboren – das war Thema ihres Bestsellers „Das endlose Jahr“. In „Sieben Jahre Ewigkeit“ setzte sich die Pädagogin mit ihrer Mutter und deren nationalsozialistischer Vergangenheit auseinander. In ihrem neuen Buch wendet sie sich der potenziellen Vaterfigur zu: Horst Wagner wäre beinahe ihr Stiefvater geworden.

Heidenreich porträtiert ihn als Parvenü und Narzissten, der das Nazisystem für eine steile Karriere nutzte. Als Leiter von Reichsaußenminister Ribbentrops Referat „Inland II“ war er an der Vernichtung der europäischen Juden sowie am Mord des französischen Generals Mesny beteiligt. Durch geschicktes Lavieren erreichte er, dass er nach Kriegsende zunächst von der Liste der Angeklagten verschwand, und durch Flucht konnte er sich weiterer Strafverfolgung entziehen. Heidenreich, die sich vorrangig der wissenschaftlichen Arbeiten von Hans-Jürgen Döscher, Sebastian Weitkamp und der Autoren des Buchs „Das Amt und die Vergangenheit“ bedient, begibt sich auch persönlich auf die Spuren von Wagner.

Intakte Seilschaften

Sie bereist einige seiner vielen Fluchtstationen in Italien und Südamerika, sucht Zeitzeugen und Orte auf, an denen sich der „Diplomat“ mit dem „Talent zur Camouflage“ der Justiz entzog. Zu Hilfe kamen ihm das internationale Netzwerk von Altnazis und das Auswärtige Amt, das seine Vergangenheit vertuschte. Ihre Mutter war in dieses üble Spiel stets einbezogen – das „Fräulein Edelmann“ stand dem abgetauchten Naziverbrecher auch aus der Entfernung liebesentbrannt und pflichtbewusst zur Seite, seine Briefe aus dem Ausland sammelte die junge Frau wie Fetische. Wagner benutzte sie als „ergebene Sekretärin“, die er durch heimliche und umso rauschhaftere kurze Begegnungen sowie durch ein Eheversprechen an sich band, obwohl er verheiratet war und zwei Töchter hatte. Dass er sich am Ende für eine andere Frau scheiden und Heidenreichs Mutter nach sieben Jahren Beziehung fallen ließ, stürzte diese bis an ihr Lebensende ins Unglück.

Als Wagner 1967, 22 Jahre nach der Schoah, endlich der Beihilfe zum 350.000fachen Mord an den Juden angeklagt wurde, hatte er sich mit seiner neuen Gattin bereits wieder in Deutschland eingerichtet: Von Schuld keine Rede, stattdessen dreiste Schamlosigkeit. Mithilfe von Juristen und Ärzten ähnlicher Gesinnung konnte Wagner seinen Prozess bis zu seinem Tod 1977 verschleppen: Er ist für seine Taten nie bestraft worden.

Heidenreich hat anhand der Geschichte Wagners und ihrer Mutter beeindruckend verdeutlicht, wie das Auswärtige Amt an der Schoah beteiligt war und wie die Seilschaften der NS-Verbrecher nach dem Krieg weiterfunktionierten.

Ihre eigenen Emotionen schildert sie aber meist nur am Rande. Sie betont, dass es zur Aufklärung notwendig ist, persönliche Schuld zu benennen und den Teufelskreis der Verdrängung zu durchbrechen. Richtig, doch tut man das allein „für die Opfer und deren Angehörige“, wie sie ihre Motivation zum Schreiben erklärt, oder zunächst vor allem für sich selbst? Identifiziert die Autorin sich mit den Opfern der Schoah, weil sie als „Täterkind“ auch ein Opfer wurde? Erst am Ende des Buches geht Gisela Heidenreich kurz der Frage nach, wie ihre Mutter und deren Nachfolgerin, stellvertretend für so viele andere deutsche Frauen, einen Täter lieben konnten: „Sich einzugestehen, dass der Geliebte Schuld trägt, hätte eine traumatische Entwertung des eigenen Ich-Ideals zur Folge … Der Partner ist auch Projektion des idealisierten Selbstbildes.“

Vielleicht weil diese Ambivalenz nicht auflösbar, sondern nur aushaltbar ist, fallen die Antworten kürzer aus, als der Titel dieses lesenswerten Buches verspricht.

Gisela Heidenreich: „Geliebter Täter. Ein Diplomat im Dienst der ‚Endlösung‘ “. Droemer Verlag, München 2011, 352 Seiten, 22,99 Euro