„Wir haben Angst, dass unsere Revolution unvollendet bleibt“

JEMEN Nadia al-Sakkaf, Chefredakteurin der englischsprachigen „Yemen Times“, wünscht sich echte Konsequenzen des Aufstands in ihrem Land

■ Frauenwahlrecht: seit 1967

■ Verfassung: „Alle Bürger haben die gleichen öffentlichen Rechte und Pflichten.“ Ein explizites Diskriminierungsverbot auf der Basis des Geschlechts wurde 1994 aus der Verfassung gestrichen.

■ Rechtslage: Es gibt kein Ehe-Mindestalter, was zu sehr frühen Eheschließungen führt. Der Vormund der Braut unterschreibt den Ehevertrag. Die Weitergabe der Staatsangehörigkeit durch die Mutter ist nicht möglich.

■ Soziales: Bei der Schulbildung weist der Jemen einen der größten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen weltweit auf.

■ Ökonomisch aktiv: 30,8 Prozent der Frauen

■ Arbeitslosigkeit: 30 Prozent (Schätzung 2010)

■ AnalphabetInnen: 71,5 Prozent (Frauen), 30,5 (Männer)

Eine bessere Zeit für politische Teilhabe und die Gestaltung der Zukunft unseres Landes hat es noch nie gegeben. Allerdings bedeutet Partizipation im Augenblick vor allem: Protest. Die Demonstrierenden kopieren, was ihnen die Leute in Tunesien und Ägypten vorgemacht haben. Oder was die Oppositionsparteien ihnen seit Beginn der Aufstände im Januar 2011 als Futter vorwerfen. Trotzdem werden die wahren Entscheidungen noch immer hinter verschlossenen Türen getroffen ohne die geringste Beteiligung der Bevölkerung. Das ist das Problem.

Die Diskussion über die Frauenquote zeigt das. Für die neue Regierungskoalition, die Anfang Dezember gebildet wurde, haben jemenitische Frauen eine Quote von mindestens 20 Prozent gefordert. Weil die internationale Gemeinschaft, insbesondere die Vereinten Nationen, uns darin unterstützten, haben wir mit einer Einführung der Quote gerechnet. Aber als die Politiker ihre Prioritäten diskutierten, muss hinter den verschlossenen Türen irgendetwas passiert sein. Die Frauenfrage fiel einfach unter den Tisch. Keine 20-Prozent-Quote, noch nicht einmal 10 Prozent.

Ein anderes Beispiel ist die Beteiligung der Jugend an der neuen Regierung – oder besser: die Nichtbeteiligung. Unsere Revolution ist eine Jugendrevolution. Aber obwohl die jemenitische Jugend während des Aufstands Hunderte von Frauen und Männern geopfert hat, erzählen ihr die traditionellen Politiker nun: „Euer Job ist vorbei. Ihr könnt nach Hause gehen!“

Wenn es um Mobilisierung und die Interessenvertretung geht, haben wir Jemeniten noch viel zu lernen. Unsere Zivilgesellschaft muss dringend gestärkt werden. Sie braucht Gestaltungsmacht. Anders als in Ägypten haben wir hier aber weiterhin eine Chance. Denn die Komitees, die für die Verfassungsreform und andere nationale Themen zuständig sind, müssen erst noch gebildet werden.

Trotzdem haben wir Angst, dass unsere Revolution unvollendet bleibt. Die Warnzeichen sind eindeutig. Es stimmt zwar, dass wir es geschafft haben, dem 33 Jahre alten Regime des Präsidenten Ali Abdullah Saleh mehr oder weniger ein Ende zu bereiten. Doch bleibt die Einbeziehung der Bevölkerung weiterhin aus. Ein Taxifahrer erzählte mir neulich, dass er sich betrogen fühle: „Als das alles begann, dachten wir, nun habe unsere Stunde geschlagen. Wir dachten, der Wandel bringe uns mehr Arbeit, ein besseres Gesundheitssystem. Wir würden bald mehr Brot auf den Tischen haben. Aber jetzt stellen wir fest, dass sich nur die Gesichter geändert haben. Die Gesinnung ist dieselbe geblieben.“ Eine junge Demonstrantin vom Platz des Wandels in Sana’a sagt es noch klarer: „Ich bin gescheitert. Wir sind gescheitert. Es ist vorbei.“ Sie verließ den Platz und ging nach Hause.

Die Enttäuschung ist groß. Die Öffentlichkeit weiß noch nicht einmal, was hier beschlossen wird. Der Staat und die Parteien kontrollieren die Medien. Unabhängige Radio- und Fernsehsender, die der Öffentlichkeit eine Stimme verleihen, existieren nicht. Trotz der Revolution und all des Ruhms, den sie dem Jemen gebracht hat, ist die Öffentlichkeit enttäuscht. Von den Politikern wird sie einfach ignoriert.

Nadia al-Sakkaf, 33, leitet seit 2005 die Yemen Times, die versucht im Rahmen der Möglichkeiten unabhängig zu berichten