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Archiv-Artikel

„Das Ritual völlig auf den Kopf gestellt“

BLOG AUS TEHERAN Demonstrieren ist gefährlich, darum erproben viele Iraner neue Formen des Protests. Sie verzichten auf SMS

Global Day of Action

■ Am 25. Juli finden weltweit Aktionen statt, um Solidarität mit der Bevölkerung im Iran zu bekunden. In über 60 Städten von Amsterdam über Ouagadougou bis Lahore sind Demonstrationen, Lichterketten oder Konzerte angekündigt. In Washington wird der berühmte iranische Sänger Dariush auftreten, in Bischkek, Kirgisien eine Demonstration in der Nähe der iranischen Botschaft stattfinden. Eine Liste aller Veranstaltungen findet sich unter http://.united4iran.org /locations.

Aufrufer: Amnesty International, International Campaign for Human Rights in Iran, Human Rights Watch, Reporter ohne Grenzen, International Federation of Human Rights, Schriftstellervereinigung P.E.N.

Unterstützer: Viele Prominente wie Friedensnobelpreisträger Schirin Ebadi und Erzbischof Desmond Tutu, Schauspieler Sean Penn, Menschenrechtsaktivistin Rigoberta Menchú Tum.

Forderungen: Respektierung der Menschenrechte, UN-Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen, Freilassung aller „gewaltlosen“ politischen Gefangenen, Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit, Beendigung staatlich unterstützter Gewalt. AKR

AUS TEHERAN ANONYMA*

Montag, 20. Juli. Es tut mir leid, dass ich in den vergangenen Tagen meinen Blog nicht aktualisieren konnte. Ich hoffe aber, dass einige von euch von Zeit zu Zeit nachsehen. Heute stelle ich meinen Bericht vom 18. Tir (10. Juli) hinein.

Weil der Protest auf der Straße so schwierig und gefährlich geworden ist, haben sich die Leute andere Formen des Protests ausgedacht. Eine davon ist der Boykott. Seit die Regierung das Versenden von SMS wieder gestattet, macht es niemand mehr. Die Telefonfirmen beklagen seit der Sperrung der SMS-Dienste große Verluste. Um die Kosten wieder reinzuholen, haben sie nicht nur die Preise erhöht, sondern außerdem 10 Tage alte SMS-Botschaften versendet, um sie den Leuten in Rechnung zu stellen. Seit Aufhebung der Sperre haben die Menschen zum SMS-Boykott aufgerufen, und das scheint ziemlich gut zu klappen. Ich habe seither keine einzige SMS versendet oder bekommen. Der andere Boykott richtet sich gegen Firmen, die der Regierung gehören.

Heute Nacht um 21 Uhr startet ein weiterer Boykottversuch. Alle sollen Haushaltsgeräte einschalten, die möglichst viel Strom verbrauchen – Bügeleisen, Waschmaschinen, Föhne –, um das Stromnetz zum Kollabieren zu bringen. Nach Schätzungen müssen sich etwa drei Millionen Haushalte beteiligen. Nach einem Absturz dürfte es zwei Stunden dauern, bis die Elektrizität wieder funktioniert.

Die Rafsandschani-Rede

Freitag, 17. Juli. Wir wollen nicht zum Namaz Jome gehen, zum Freitagsgebet. In der Nacht davor waren wir zu dem Schluss gekommen, dass eine große Beteiligung es ihnen zu einfach machen würde, die Zahl für Propagandazwecke zu missbrauchen. Wir waren auch skeptisch hinsichtlich des Inhalts von Rafsandschanis Rede. Er könnte vorschlagen, die Situation im Moment zu akzeptieren. Unsere Entscheidung war von einer Mischung aus Pessimismus und tiefem Misstrauen gegen jemanden wie Rafsandschani geprägt. Stattdessen wollten wir uns das Gebet im Fernsehen anschauen. Namaz Jome wird immer live aus der Teheraner Uni übertragen. Nachdem wir einige Zeit gewartet hatten, dämmerte uns allmählich, dass sie es nicht zeigen würden. Der fantastische Pedestrian Blog hat genau aufgeführt, was das iranische Staatsfernsehen in seinen fünf Kanälen stattdessen laufen ließ: 1. eine Diskussion über Havij Bastani (Dessert aus Karotten und Eiscreme), 2. einen japanischen Cartoon von 1986, 3. einen indischen Film, 4. einen noch kitschigeren iranischen Film, 5. eine Dokumention des iranisch-irakischen Kriegs.

Weil wir kein Radio haben, gingen wir ins Internet, um die Rede in verschiedenen Blogs nachzulesen. Wir wurden immer aufgeregter, weil Rafsandschanis Rede ziemlich stark war und die Menge dem Inhalt seiner Worte durch wiederholte Gesänge und große Anteilnahme ihre Unterstützung ausdrückte, sodass das gewöhnliche Ritual des Freitagsgebets auf den Kopf gestellt wurde. Auf einigen Bildern sieht man Männer und Frauen nebeneinander beten. Einige von ihnen tragen keinen Tschador. Pedestrian Blog liefert eine ziemlich gute Übersetzung und eine gute Einordnung dieses Namaz Jome. Der Neoresistance Blog hat eine vollständigere Übersetzung von Rafsandschanis Rede, die teilweise etwas polemisch kommentiert ist.

Freitag, 10. Juli. Die Beteiligung gestern (Jahrestag des Studentenaufstands vom 9. Juli 1999) war groß, aber über die Stadt verstreut. Ich verließ das Haus um 16.45 Uhr in Richtung Valiasr-Platz. Der Platz war geschäftig wie immer, aber es war offensichtlich, dass viele Menschen zum Enghelab-Platz wollten und nicht nur einkaufen gingen. Viele trugen medizinische Masken und hatten, wie empfohlen, kleine Wasserflaschen dabei. Ecke Keshavarz-Straße stand Polizei, aber nicht in Schutzanzügen. Ich stieg in ein Taxi, in dem schon eine Tschador tragende Frau mittleren Alters saß und mit dem Fahrer diskutierte. „Wir Sharestanis (Provinzler) brauchen euch Teheraner. Wir können die Revolution nicht stemmen. Ihr müsst das machen!“ Der Taxifahrer antwortete: „Aber wir haben eine Menge gemacht. Die Leute waren sehr engagiert. Sie haben jeden Tag demonstriert.“

Öffentliches Rauchen

Beim Lale-Park kam der Verkehr zum Stillstand. Ich hörte Allahu- Akbar-Rufe, dann begannen die Autos zu hupen. Eine junge Frau lief zwischen den Autos herum, ihre Hand zeigte das V-Zeichen. Sie war schwarz gekleidet, mit grünem Stirnband. Sie sah verwegen und furchtlos aus. Ich bekam Gänsehaut und merkte plötzlich, wie sehr ich die Demonstrationen vermisst hatte. Sosehr ich um die Frau Angst hatte, diese Szene hat doch auch den Tag gerettet. Ich stieg aus und ging zu Fuß weiter. Die Polizei kam von links, ich schlüpfte in eine Baustelle, die zum Bürgersteig am Park führte. Die Autos hupten weiter, die Allah-Akbar-Rufe wurden lauter. Die Rufe wechselten zu „Marg bar diktator!“ (Tod dem Diktator). Noch bevor ich die Kargar-Kreuzung erreichte, füllte sich die Luft mit Tränengas. Ich wich wie viele andere in den Park aus. Überall trübten Tränengaswolken den Blick. Ich überlegte mir, dass es das Beste wäre, eine Seitenstraße zu nehmen.

Unterwegs sah ich viele Menschen, die vor dem Tränengas geflohen waren. Ich entschied, mir eine Packung Zigaretten zu kaufen, um gegen das Gas anzukämpfen, und ging in einen Eckladen, der gerade seine Läden herunterlassen wollte. Vor dem Laden blockierte eine Diskussion zwischen einem Mann im Auto und einem Bassidschi-Milizionär den Verkehr. Der Mann versuchte offensichtlich, die Rolle der Freiwilligenmiliz mit dem jungen, aber stämmigen und bärtigen Mann zu diskutieren, der offensichtlich allein unterwegs war. Ich ging in den Laden. Als ich wieder rauskam, kidnappte der Bassidschi gerade ein Motorrad. Er stoppte den kleinen, dürren Fahrer, der eine Brille trug, und brüllte ihn an: „Fahr!“ Der Mann wollte erst nicht, war aber offensichtlich zu eingeschüchtert. Sie fuhren in Richtung Azadi-Platz. Ich zündete mir eine Zigarette an, was ziemlich absurd war und sich genau in die Liste des ironischen Bedeutungswandels der Dinge einreiht, die die Ereignisse mit sich gebracht haben: Eine auf der Straße rauchende Frau bedeutet Tränengas und nicht etwa unmoralisches Verhalten.

Aus dem Englischen von Sabine Seifert

■ Der Namen der Bloggerin ist der Redaktion bekannt. Bisher von ihr erschienen sind: „Die schicken ja Kinder!“ (taz vom 25. Juni), „Ein schlechter Traum“ (1. Juli), „Sie nennen den Albtraum ‚weiße Folter‘ “ (6. Juli) und „Wir sollten den Wetterbericht gründlich lesen“ (13. Juli)