Zum Abschied schenkten die Deutschen Blumen

taz-Serie Kriegsende (Teil 5): Mit 15 tritt Tamara Lebedjewa in die sowjetische Armee ein. Drei Jahre später steht sie vor dem Reichstag

Ihr eiserner Wille, der sie schon damals vorwärts trieb, ist heute noch spürbar

VON BARBARA OERTEL

Was treibt eine junge Russin dazu, sich Anfang des Jahres 1942 freiwillig für einen Einsatz an der Front zu melden? Hass, der übermächtige Wunsch, das Vaterland zu verteidigen, und ein Versprechen, das sie ihrer Mutter gegeben hat: Vater und Bruder bei den „Fritzen“ zu rächen.

Gerade 15 Jahre alt ist Tamara Lebedjewa, die im Kalinin-Gebiet geboren und aufgewachsen ist, als sie beim örtlichen Wehrkommando vorstellig wird. Kurz zuvor hat die Familie die Nachricht erhalten, dass Tamaras Vater und ältester Bruder bei einem Bombenangriff auf Kronstadt – nur wenige Wochen nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion – getötet worden sind. Der zuständige Kommandeur weist das Mädchen brüsk ab. Denn Tamara hat nicht einmal einen Pass, nur ein Zeugnis über sieben Schuljahre, und – was in dieser Zeit wohl am wichtigsten ist – eine gehörige Portion Entschlossenheit. Die trägt kurze Zeit später doch noch Früchte. Tamara wird in die Armee aufgenommen und einer Abteilung für Aufklärung zugeteilt, wo sie in nur einem Monat alles lernt, was ein Fernmelder wissen muss.

Ihr eiserner Wille und ihre Energie, die sie schon damals vorwärts treiben, sind heute noch spürbar. Kerzengerade, als nähme sie Haltung an, und erhobenen Hauptes steht die alte Frau, die nicht einmal 1,60 Meter misst, inmitten ihres kleinen Wohnzimmers. Über grob gestrickten Wollstrümpfen trägt sie einen abgeschabten Rock, der über die schmalen Hüften zu rutschen droht.

Auch ihre dunkelgrüne Uniformjacke ist in die Jahre gekommen und ihrer Besitzerin jetzt fast zwei Nummern zu groß. Geradezu zärtlich lässt Tamara ihre Finger über ein Dutzend dort befestigter Orden und Medaillen gleiten – stumme Zeugen eines Stückes ihrer Lebensgeschichte, nach der heute niemand mehr fragt. Dabei werden ihre markanten Gesichtszüge plötzlich weich, und ihre Augen bekommen einen eigenartigen Glanz: „Diesen hier, den Roten Stern, habe ich für einen Einsatz in einem brennenden Panzer bekommen“, sagt sie.

Es ist Frühjahr 1945 und Tamaras Einheit bereits auf dem Weg nach Berlin. Als ein Panzer in Brand geschossen und der Funker dabei getötet wird, befiehlt ihr der Kommandeur, das technische Gerät zu retten. „Ich bin in den Panzer gekrochen, habe den Apparat herausgeholt und den Funkspruch abgesetzt“, erzählt Tamara. Dabei zieht sie sich eine schwere Kopfverletzung zu. Diese wird nur notdürftig genäht, weil Tamara es ablehnt, sich ins Lazarett bringen und eine Metallplatte in den Kopf einsetzen zu lassen. Oft genug hat sie mitbekommen, was mit derart behandelten Kriegsverletzten passiert: „Sie haben nächtelang geschrien und schließlich Selbstmord begangen, weil sie die Schmerzen nicht mehr ertragen konnten.“ Sie selbst leidet bis heute unter den Spätfolgen ihrer Verwundung. Jeden Wetterumschwung quittiert ihr mittlerweile durch zwei Herzinfarkte geschwächter Körper mit bohrenden Schmerzen.

Ende April 1945 trifft Tamaras Trupp, in dem außer ihr nur noch eine andere Frau dient, in der deutschen Reichshauptstadt ein. Ganze Straßenzüge liegen schon in Trümmern, doch noch wird fast überall gekämpft – das letzte Aufbäumen vor der Kapitulation. Mühsam arbeiten sich die Rotarmisten von Haus zu Haus vor. „Die Haus- und Kellereingänge waren verbarrikadiert, immer wieder gab es Kämpfe und dabei große Verluste“, erinnert sich Tamara. Am 2. Mai 1945 wird auf dem Reichstag die sowjetische Flagge gehisst. Nie wird Tamara den Moment vergessen, als sie an diesem symbolischen Ort eintrifft, wo sie auch ihren Namenszug hinterlässt. „Ich bin auf die Knie gefallen und habe den Boden geküsst.“ Genugtuung, die Faschisten besiegt zu haben, empfand sie dabei nicht. „Wir haben einfach nur geweint. Geweint, weil wir so lange marschiert waren, so viel durchgemacht und so viel verloren hatten, unser Land zerstört und das Leben unserer Angehörigen ausgelöscht worden war.“ Was hat sie damals über die Deutschen gedacht? „Die einfachen Menschen waren nicht schuld. Für mich waren die Deutschen immer ein Arbeit liebendes und ehrliches, ein Kulturvolk. Ganz anders als unsere, die russischen Iwans.“

Auf Befehl Stalins vom 5. Mai 1945 werden alle Frauen aus den Streitkräften abgezogen und nach Hause geschickt. Und wieder fließen Tränen. „Die Deutschen haben uns zum Abschied Blumen geschenkt und geweint – aus Freude, dass alles vorbei war und wir sie befreit hatten“, sagt Tamara. Am 9. Mai nimmt sie in Moskau auf dem Roten Platz an der großen Siegesparade teil.

1948 geht Tamara mit ihrem Mann, einem Politoffizier der Roten Armee, nach Tiraspol, eine der beiden Hauptstädte der durch die sowjetische Annektierung Bessarabiens 1940 neu entstandenen Moldawischen Sowjetrepublik. Hier lebt sie noch heute. Die Ehe wird nach kurzer Zeit geschieden, Tamara zieht den gemeinsamen Sohn Wolodja alleine auf, arbeitet in Kantinen und Restaurants. 1968 heiratet sie ein zweites Mal – einen verwitweten Militär im Ruhestand. Eigentlich will sich das Paar am 9. Mai, dem Tag des Sieges, trauen lassen, bekommt aber beim Standesamt wegen zu großen Andrangs Heiratswilliger erst eine Woche später einen Termin. 1990 stirbt Tamaras Mann – ein Verlust, den sie bis heute nicht verwunden hat. „Durch ihn habe ich wieder leben gelernt, nach all dem Leid während des Krieges und den langen Jahren der Einsamkeit“, sagt sie.

Zwei Jahre später zieht Tamara wieder in den Krieg. Diesmal steht der Feind auf der anderen Seite des Dnjestr, in Chișinău, der Hauptstadt der seit 1991 unabhängigen Republik Moldau. Er will, so jedenfalls die Lesart der rund 600.000 größtenteils russischsprachigen Bewohner Transnistriens, den jungen Staat zwangsrumänisieren. Im Juni kommt es zu ersten bewaffneten Auseinandersetzungen. Während viele junge Leute den Ernst der Lage nicht erkennen, macht sich Tamara auf zum Hauptquartier der in Transnistrien stationierten 14. Russischen Armee. „He Alte, ein Krieg reicht dir wohl nicht“, faucht ein Soldat sie an. „Reicht mir nicht“, antwortet Tamara. Bestückt mit mehreren Kalaschnikows, Granaten und Pistolen kämpft sie sich zur Front in Dubassar und Bender durch. Ein Milizionär setzt Tamara unter Druck. Er werde sie wegen illegalen Waffenbesitzes vor Gericht bringen lassen. Als sie daraufhin mit nur einem Schuss eine Lampe von der Decke holt, verzichtet der Uniformierte auf weitere Drohgebärden.

Wenn Tamara keine Waffen besorgt, blockiert sie mit anderen Vaterlandsverteidigern Eisenbahnschienen oder kümmert sich um Verwundete. Als der Krieg im Juli 1992 mit einen Waffenstillstand endet, sind über 1.000 Opfer zu beklagen. „Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass es noch einmal Krieg geben könnte“, sagt Tamara heute. Für ihren Einsatz bekommt sie die Medaille „Verteidigerin Transnistriens.“ Die liegt auf einem klapprigen Schränkchen neben einem museumsreifen Telefon. An der Wand darüber hängt eine rote Schärpe, auf der große goldene Lettern an den Jahrestag des Sieges erinnern. „Hier“, sagt Tamara und deutet auf eine kleine Schwarzweißaufnahme, „unser Veteranenchor.“ Zudem kümmert sie sich als Vorsitzende der Zeremonie-Kommission um die Belange der Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges. „Die sterben in letzter Zeit weg wie die Fliegen“, sagt Tamara. Dann besorgt sie die nötigen Dokumente, die Busse, um Angehörige nach der Beerdigung ins Restaurant zu bringen, und trommelt das Militärorchester zusammen.

Jetzt bereiten sie und die anderen Veteranen in Transnistrien sich auf den 9. Mai vor, den 60. Jahrestag des Sieges. Einmal noch wollen sie im Mittelpunkt stehen und Wertschätzung erfahren – von einem Staat, der für sie gerade mal eine Rente von umgerechnet 33 Euro übrig hat. Das reicht kaum zum Überleben. Vielleicht wird Tamara an diesem Tag auch ein Gedicht vortragen, das sie vor kurzem für eine ehemalige Kampfgefährtin geschrieben hat. „Möchten Sie es hören?“, fragt sie etwas verlegen. Dann strafft sich ihr Körper und es wird für einen kurzen Moment ganz still. „Die Stunde war schwer für die geliebte Heimat; als ich an die Front kam, war ich erst 15 Jahr; die Kugeln flogen vorbei; und eine Granate nicht weit von mir brachte den Tod. Krümelchen wurde ich im Scherz genannt; war ich im Bataillon doch die Kleinste; und gerade deshalb blieb ich, welch ein Wunder; am Leben im Hagel der Bomben. Wenn nötig, ich würde alles noch einmal genauso machen; mein Uniformrock liegt allzeit bereit; aber in diesem kleinen Gedicht erzähle ich von mir; und von den tapferen Mädchen im Krieg.“

„Grüßen Sie Thomas von mir, Thomas den Deutschen“, sagt Tamara zum Abschied. Thomas war das Zauberwort gewesen, das dem Gast an diesem Abend den Menschen Tamara geöffnet hat. Den Journalisten lernte sie im Oktober 2002 zufällig bei einer Parade in Tiraspol kennen. „Wenn Sie wüssten, wie wir zusammen Lieder gesungen und uns geküsst haben“, sagt Tamara und lächelt. Vielleicht hat sich an diesem Tag im Oktober für sie ein Kreis geschlossen. „Ob wir uns wohl wiedersehen?“, fragt sie noch. Viel Zeit bleibt nicht.